Putin testet den Westen: Nato könnte bald Putins Jets abschiessen
Erst Polen, dann Rumänien, jetzt Estland: Drei Mal innerhalb kürzester Zeit hat das russische Militär seine Luftstreitkräfte ins Nato-Gebiet geschickt. Am Freitag flogen drei MiG-31-Kampfjets zwölf Minuten lang über der estnischen Insel Vaindloo, bis sie von Nato-Kampfjets abgefangen wurden.
Im Westen betrachtet man die zunehmenden Luftraumverletzungen durch russische Militärflugzeuge als Provokation. Erst vor zwei Wochen drangen 19 Drohnen hunderte Kilometer weit in den polnischen Luftraum ein, bis Nato-Kampfflugzeuge einen Teil von ihnen abschiessen konnten. Die Nato beobachtet die ständigen Luftraumverletzungen durch Russland mit Sorge. Insbesondere bei den osteuropäischen Mitgliedern der Allianz werden Forderungen laut, künftig robuster gegen russische Eindringlinge vorzugehen.
Der tschechische Präsident Petr Pavel nannte die russischen Provokationen am Wochenende «unverantwortlich» und brachte einen «möglichen Abschuss russischer Maschinen» ins Gespräch. Auch im Baltikum sieht man die Notwendigkeit, entschlossener zu handeln.
Eigentlich hatte die Nato bereits auf die wachsenden russischen Störversuche mit der Operation «Eastern Sentry» reagiert. Doch die erhoffte Abschreckung scheint zu verpuffen. Kremlchef Wladimir Putin testet die Allianz weiter. Muss die Nato nun ihre Reaktion verschärfen? Das könnte sich schon in den nächsten Tagen entscheiden.
Deutsche Regierung ist skeptisch
Antworten könnte es schon an diesem Dienstag geben, dann trifft sich der Nato-Rat. Auf Antrag Estlands beraten die Botschafter der 32 Mitgliedstaaten. Grundlage ist der Artikel 4 des Nordatlantikvertrags. Er sieht Konsultationen der Nato-Staaten vor, «wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind».
Auch in der deutschen Regierung verweisen sie auf diesen Termin und zeigen sich zugleich skeptisch bei möglichen Verschärfungen. Man warte «sehr gelassen die morgigen Beratungen ab», sagte ein Regierungsvertreter t-online. Man sei «sicher, dass Russland den Ernst der Lage versteht, ohne dass man gefährliche Eskalationen betreiben muss».
Die Skepsis reiht sich ein in die Reaktion des Kanzlers am Wochenende. Oder besser gesagt: die Nichtreaktion. Als die Debatte am Wochenende auch in Deutschland losging, hielt sich Friedrich Merz öffentlich zurück.
Doch nicht nur im Osten Europas, wo die Grenze zu Russland nah ist, gibt es immer mehr Politiker, denen die aktuelle Reaktion der Nato nicht ausreicht. Auch in Deutschland wird nach dem Vorfall über Estland diskutiert, ob es nicht eine entschlossenere Antwort braucht.
Es ist ausgerechnet die Union von Friedrich Merz, aus der seitdem die weitreichendsten Forderungen kommen. Im Zweifel: Abschuss der Maschinen. Der Verteidigungspolitiker und Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Reinhard Brandl, sagte t-online:
«Die Nato darf vor Putins Provokationen nicht zurückweichen», sagte Brandl. «Sie muss vielmehr bereit und in der Lage sein, militärische Aggression mit militärischer Verteidigung abzuwehren.» Es brauche ein klares Protokoll, wie mit Grenzverletzungen umzugehen sei, sowie eine weitere Stärkung der Nato-Ostflanke, zu der auch Deutschland einen Beitrag leisten müsse.
Es ist der Ton, den nun viele Unionspolitiker anschlagen. Der aussenpolitische Sprecher von CDU und CSU, Jürgen Hardt, etwa forderte «ein klares Stoppschild» für Putin. Nur die klare Botschaft an Russland werde Wirkung zeigen, «dass jede militärische Grenzverletzung mit militärischen Mitteln beantwortet wird bis hin zum Abschuss russischer Kampfjets über Nato-Gebiet», sagte Hardt dem «RND».
Der CDU-Aussen- und Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter forderte ebenfalls, Russland mit Abschuss zu drohen und bei der nächsten Luftraumverletzung russische Jets dann auch abzuschiessen. «Wir verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn nicht konsequent gehandelt wird», sagte Kiesewetter dem «Tagesspiegel».
SPD: Abschuss eines Flugzeugs ist «letzte Option»
Auch der Koalitionspartner SPD nimmt die russischen Provokationen ernst. Den Forderungen nach schärferen Massnahmen wollen sich die Sozialdemokraten aber vorerst nicht so deutlich anschliessen.
Der SPD-Berichterstatter für den Verteidigungsetat, Andreas Schwarz, sagte t-online:
Auch die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Siemtje Möller, mahnte zu erhöhter Wachsamkeit. Die wiederholten Luftraumverletzungen durch Russland bereiteten ihr «grosse Sorge», sagte Möller t-online. Zugleich hätten die Reaktionen in Polen, Rumänien und nun auch in Estland gezeigt, dass die Verteidigungsmechanismen der Nato zuverlässig greifen. «Die Nato berät jetzt, wie mit möglichen weiteren Verletzungen umzugehen ist. Diesem Prozess sollten wir nicht durch vorschnelle Empfehlungen vorgreifen.»
Klar sei, die Sicherheit der Nato-Bündnispartner müsse gewährleistet sein, zugleich dürfe die Nato nicht selbst zur Kriegspartei werden. «Der Abschuss eines Flugzeugs ist dabei immer die letzte Option», sagte Möller.
Die Nato-Reaktion ist genau geregelt
Was die SPD-Politikerin Siemtje Möller meint: Die Nato verfügt bereits über Regeln, wie sie bei Luftraumverletzungen reagiert. Die genauen Abläufe sind militärisch eingestuft, sie betreffen einen sensiblen Bereich der Nato-Verteidigungsarchitektur. Die Geheimhaltung ist dabei von kritischer Bedeutung, da Russland grosses Interesse daran hat, die Nato-Abwehr zu studieren und Schwachstellen auszumachen.
Klar ist jedoch, dass die Nato bei feindlichen Luftraumverletzungen in einem abgestuften Verfahren reagiert. Sobald ein Flugzeug eines Nicht-Nato-Staates in den rund-um-die-Uhr-überwachten Luftraum der Nato eindringt, wird es über Radar und Transponderdaten identifiziert. Zusätzlich kann die Nato den Einsatz sogenannter Alarmrotten – meist zwei Kampfjets – anordnen, um das Flugzeug abzufangen.
Deutschland hat diesen Mechanismus zuletzt bereits verstärkt: Nach den russischen Drohnenflügen über Polen stellt die Bundeswehr eine weitere Alarmrotte im Rahmen des sogenannten Quick Reaction Alert (QRA, «Schneller Reaktionsalarm») der Nato bereit. Künftig sichern damit vier deutsche Eurofighter den polnischen Luftraum.
Die Abfangjäger versuchen in der Regel, Funkkontakt zum eindringenden Flugzeug herzustellen und aus dem Luftraum zu begleiten oder zu drängen. Nur im äussersten Fall, wenn das feindliche Flugzeug eine unmittelbare Bedrohung darstellt, etwa weil es erkennbar einen Angriff vorbereitet, dürfen die Nato-Piloten den Eindringling abschiessen.
Als die Türkei 2015 einen russischen Jet abschoss
2015 war so ein Fall. Damals hatte die türkische Luftwaffe einen russischen Kampfjet vom Typ Suchoi Su-24 nahe der türkisch-syrischen Grenze abgeschossen. Nach Angaben der Türkei hatte die russische Maschine den türkischen Luftraum verletzt und mehrere Warnungen der türkischen Abfangjäger ignoriert, was Russland – wie heute auch – bestritt.
Ein Vorbild für eine härtere Gangart heute? Die litauische Verteidigungsministerin Dovilė Šakalienė sieht das so. Sie nannte den damaligen Abschuss auf der Plattform X einen «Denkanstoss».
Schon 2015 aber hatte der Abschuss ein Nachspiel, das von der Türkei so wohl nicht geplant war. Es dauerte nicht lange, bis Putin Wirtschaftssanktionen gegen das Land verhängte und es «Helfershelfer von Terroristen» nannte. Am Ende musste sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei Putin entschuldigen.
Russland ist zwar heute international in einer schwächeren Position und kann kaum mit wirtschaftlichen oder diplomatischen Sanktionen drohen. Doch Putin könnte einen Abschuss durch westliche Kampfjets propagandistisch ausschlachten und die Konfrontation mit der Nato weiter befeuern.
Im Verteidigungsbündnis scheinen manche eine solche Eskalation zu fürchten, das zeigt nicht zuletzt die Zurückhaltung im Kanzleramt. Gut möglich also, dass die Nato-Partner am Dienstag noch einmal ihre Verteidigungsbereitschaft betonen, aber keine schärferen Regeln beschliessen. Der befürchtete Preis, er könnte ihnen zu hoch sein.

