In China herrscht seit mehr als einem Monat faktisch der Ausnahmezustand. Die Metropolen des Riesenreiches glichen zeitweise Geisterstädten. Die Provinz Hubei ist mehr oder weniger vom Rest des Landes abgeriegelt worden. Dort befindet sich die Stadt Wuhan mit elf Millionen Einwohnern, in der das Coronavirus Sars-CoV-2 erstmals festgestellt wurde.
Die durch das Virus verursachte Lungenkrankheit Covid-19 hat Stand Freitag in China bislang 2236 Todesfälle und 75'465 bestätigte Infektionen zur Folge gehabt. Experten rechnen mit einer sehr viel höheren Dunkelziffer. Obwohl die Wahrscheinlichkeit vergleichsweise hoch ist, eine Ansteckung unbeschadet zu überstehen, ist die Angst vor dem Virus in China allgegenwärtig.
Die Bilder von menschenleeren Städten sind für viele ein Schock. Das Regime versucht krampfhaft, Normalität zu vermitteln. Spitäler werden in Rekordzeit errichtet, Staatschef Xi Jinping geht mit Mundschutz unter die Leute. Dennoch kehrt das Leben laut Berichten von Korrespondenten nur langsam in die Öffentlichkeit zurück. Viele verkriechen sich nach wie vor in ihren Wohnungen.
Noch sind die Folgen der Panik etwa für die Weltwirtschaft nicht absehbar. Die Regierung erwarte einen Einbruch des Aussenhandels in den ersten beiden Monaten des Jahres, teilte das zuständige Ministerium am Freitag mit. Auch der Dienstleistungssektor leide unter der Epidemie. Wenn die Wirtschaftsmacht kränkelt, könnte der Rest der Welt rasch angesteckt werden.
Der rasante Aufstieg der Volksrepublik China in den letzten Jahrzehnten stösst auch bei uns auf grosse Bewunderung. Bundesräte pilgern regelmässig nach Peking, Wirtschaftsführer rühmen die Effizienz des chinesischen Systems, das in relativ kurzer Zeit Millionen aus der Armut befreit hat. Ausgeblendet oder verharmlost werden die politischen Nebenwirkungen dieses Erfolgs.
China ist ein totalitärer Staat, der Andersdenkende rücksichtslos verfolgt. Seit dem Amtsantritt von Xi Jinping 2012, der sich zum faktischen Alleinherrscher aufgeschwungen hat, wurde die Schraube weiter angezogen. Die Repression soll mit einem digitalen Überwachungsstaat perfektioniert werden, den sich nicht einmal der grosse Warner George Orwell vorstellen konnte.
Besonders hart bekommen dies die muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang zu spüren. Sie werden willkürlich verhaftet und in eigentliche Konzentrationslager gesteckt, wie neu aufgetauchte Dokumente belegen. Für die gesamte Bevölkerung soll ein Sozialkredit-System eingeführt werden, das negatives Verhalten bestraft. Opposition wäre damit faktisch unmöglich.
Die Kommunistische Partei rechtfertigt diese Massnahmen mit dem Euphemismus «Harmonie». Damit ist es seit dem Auftauchen des Coronavirus nicht mehr weit her. In der Bevölkerung gärt es, denn die Krankheit entlarvt die Unfähigkeit eines totalitären Systems im Umgang mit Krisen.
Das zeigt die Chronologie der Ereignisse in Wuhan, die das China Media Project in Hongkong veröffentlicht hat. Verfasst hat den Text ein Journalist oder eine Journalistin aus Wuhan, natürlich unter einem Pseudonym. Er enthüllt das Versagen der Behörden. Hätten sie nicht wochenlang versucht, die Wahrheit zu unterdrücken, hätte sich die Krankheit vielleicht eindämmen lassen.
Der erste Fall eines infizierten Patienten wurde demnach am 8. Dezember diagnostiziert. Es habe sich um den Betreiber eines Stands auf dem Fischmarkt von Wuhan gehandelt. Der Name täuscht, denn dort wird alles mögliche Getier verkauft. Experten vermuteten schnell, dass die Krankheit dem Severe Acute Respiratory Syndrome (Sars) ähnelt, das 2003 in Südchina aufgetaucht war.
Obwohl die Zahl der Ansteckungen rasch zunahm, versuchten die Behörden, den neuen Ausbruch geheim- und die «Stabilität» aufrechtzuerhalten, heisst es im Text des China Media Project. Noch am 31. Dezember behauptete die Stadtregierung, es gebe keine Ansteckung von Mensch zu Mensch oder von medizinischem Personal. Dabei hatten Forscher das Gegenteil festgestellt.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde informiert, das eigene Volk aber im Unklaren gelassen. Mehr noch: «Acht Bürger von Wuhan, die online über den Ausbruch berichtet hatten, wurden von der Polizei festgenommen und in den offiziellen Medien denunziert, um die Bevölkerung abzuschrecken und zum Schweigen zu verpflichten», so die anonyme Quelle.
Noch Mitte Januar wurden in Wuhan Tickets für Feierlichkeiten zum chinesischen Neujahrsfest verkauft. Erst als Xi Jinping am 20. Januar die Anweisung gab, der Ausbreitung der Epidemie «mit aller Kraft» Einhalt zu gebieten, handelten die Behörden. Am 23. Januar wurde Wuhan unter Quarantäne gestellt, doch von der Ankündigung bis zur Umsetzung vergingen acht Stunden.
In dieser Zeit gelang es vielen Menschen, die Stadt zu verlassen. Die Zahl der Flüchtlinge aus Wuhan wird auf rund eine Million geschätzt. Ein beträchtlicher Teil sei «zu diesem Zeitpunkt Träger des Coronavirus gewesen», schreibt der Insider. Der Parteichef von Wuhan musste schliesslich zugeben, dass die Epidemie mit «strengeren Kontrollmassnahmen» zu Beginn des Ausbruchs möglicherweise glimpflicher verlaufen wäre.
Der Ablauf ist typisch für totalitäre Systeme. In heiklen Situationen ist es nicht angebracht, Verantwortung zu übernehmen. Man könnte in Teufels Küche geraten. Gleiches gilt für das Überbringen von schlechten Nachrichten. Das zeigt sich am Beispiel jenes Mannes, dessen Schicksal die chinesische Nation in Aufruhr und Empörung versetzt hat.
Der 34-jährige Augenarzt Li Wenliang aus Wuhan war einer der ersten, der vor dem neuen Erreger gewarnt hatte und deshalb von der Polizei mundtot gemacht wurde. Ende Januar erkrankte Li, dessen Frau schwanger war, selber an Covid-19, am 7. Februar starb er. Seither wird er von Millionen Chinesen in den sozialen Medien als Märtyrer für die Meinungsfreiheit gefeiert.
Der eigenen Regierung trauen sie nicht über den Weg. Dies ist vielleicht der wichtigste Grund, warum die Menschen in ihren Wohnungen bleiben und Fabriken stillstehen.
Der vielleicht grösste Vorzug des demokratischen Rechtsstaats wird häufig übersehen oder für selbstverständlich gehalten. Er schafft ein Grundvertrauen in der Gesellschaft. Man ist weitgehend geschützt vor Willkür und deshalb geneigt, den offiziellen Stellen zu glauben. Das gilt selbst dann, wenn wie im Umgang mit dem Coronavirus nicht alles rund läuft.
In totalitären Gesellschaften hingegen dominiert das Misstrauen gegenüber dem Staat, den Nachbarn, den eigenen Familienmitgliedern. Wer in die Mühlen des Systems gerät, hat wenig Möglichkeiten, sich zu wehren. Die Uiguren sind nur das krasseste Beispiel. Die Geschichte von Faschismus und Kommunismus ist randvoll mit solchen Episoden.
In der heutigen Zeit, wo der Rechtsstaat selbst in Europa unter Druck gerät, kann man dessen Vorzüge nicht genug betonen. Ihm ist es zu verdanken, dass es islamistischen und rechtsextremen Gewalttätern nicht gelungen ist, mit ihrem Terror – zuletzt in Hanau – eine Destabilisierung des «dekadenten» Westens oder die erhofften bürgerkriegsähnlichen Zustände herbeizuführen.
Wir sind resilient, weil bei uns Recht und Gesetz gelten. In China ist dies nicht der Fall. Der weitere Verlauf der Epidemie wird zeigen, was der zunehmende Unmut in der Gesellschaft auslösen wird. Der Blick auf Xi Jinpings bisherige Amtszeit lässt nichts Gutes erwarten. Es könnte aber auch ihm selbst an den Kragen gehen – der Machterhalt der Partei ist wichtiger als die Person.
Wenn bei uns aber das nächste Mal jemand die vermeintlichen Vorzüge des effizienten chinesischen Systems anpreist – wie ein «Tages Anzeiger»-Redaktor im Fall des rasant ausgebauten Netzes für Hochgeschwindigkeitszüge –, dann kann man entgegenhalten: Coronavirus. Covid-19. Sars-CoV-2. Totales Versagen des Totalitarismus.
Vielleicht wird Europa durch diese Krise etwas wachgerüttelt und hintersinnt das Auslagern lebenswichtiger Unternehmungen nach Fernost künftig zweimal.
In diesem Sinne: Bleibt gesund!
Auch Multinationale Konzerne sind totalitäre Machtpyramiden-Systeme, die sich der Kontrolle und der Kritik durch die Öffentlichkeit entziehen und über zahlreiche korrupte Komplizen in Regierungen und Parlamenten verfügen!
Auch da werden Informationen über die tatsächlichen Verhältnisse in den Minen und auf den Ländereien beschönigt und verschwiegen.
Bundesrat Cassis wird ja nicht grundlos auch "Glencore-Praktikant" genannt...