Das neue Jahr beginnt nicht gerade aufmunternd. «Ist die Welt aus den Fugen?», lautet das Thema, über das am 2. Januar im «SRF Club» diskutiert wird. In den letzten Jahren war diese Frage ein Dauerbrenner. Sie wurde im Kontext der islamistischen Terroranschläge und der Corona-Pandemie gestellt. Nun hat sie eine zusätzliche Dringlichkeit erhalten.
Seit bald drei Monaten findet im Gazastreifen ein mörderisches Ringen zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas statt, unter dem die Zivilbevölkerung entsetzlich leidet. Der Krieg in der Ukraine geht demnächst in sein drittes Jahr. Ein Ende ist in beiden Fällen nicht in Sicht. Auch in der Klimakrise scheint es mehr Rück- als Fortschritte zu geben.
Natürlich war früher nicht alles besser, ganz im Gegenteil. Aber die (Schein-)Stabilität im Kalten Krieg und der vermeintliche Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft nach seinem Ende haben ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermittelt. Wer konnte sich vorstellen, dass in Europa wieder ein Eroberungskrieg «alter Schule» stattfinden würde?
Die Perspektiven in allen Krisenherden sind zum Jahreswechsel düster. Und eine Analyse von CNN gibt wenig Hoffnung für 2024. Sie erschöpft sich im Befund, dass wenigstens die schlimmsten Prognosen für das auslaufende Jahr nicht eingetreten sind (dazu gehörte etwa eine chinesische Invasion in Taiwan). Doch das sei keine Garantie für das neue Jahr.
Es fällt schwer, angesichts solcher Aussichten zuversichtlich zu bleiben. Trotzdem gibt es in allen erwähnten Fällen einen, wenn auch kleinen, Hoffnungsschimmer.
Am 7. Oktober wurden die Israelis aus ihrem trügerischen Gefühl von Sicherheit gerissen. In den frühen Morgenstunden überwanden hunderte Hamas-Terroristen ungehindert die Grenzbefestigungen zum Gazastreifen. Sie verübten ein Massaker unter anderem an Besuchern eines Musikfestivals und töteten mehr als 1200 Menschen.
Es war das schlimmste Verbrechen an Juden seit dem Holocaust. Kurz darauf begann der israelische «Rachefeldzug» in Gaza. Seither tobt ein Inferno, unterbrochen nur durch eine Feuerpause zum Austausch von Geiseln und Gefangenen. Für die palästinensische Bevölkerung – rund zwei Millionen Menschen – ist dies eine humanitäre Katastrophe.
Obwohl seit Weihnachten offenbar mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen, drohen unzählige Menschen an Hunger und Kälte zu sterben. Die Kampfhandlungen sollen schon mehr als 20’000 Todesopfer gefordert haben. Auch die Zahl der getöteten israelischen Soldaten – bisher mehr als 150 – nimmt wegen Guerilla-Attacken der Hamas laufend zu.
Die Israelis erwägen deshalb einen Strategiewechsel. Sie wollen sich auf eine rund einen Kilometer breite «Pufferzone» zurückziehen und von dort aus die Hamas bekämpfen. Der Krieg werde noch «viele Monate» dauern, warnte Generalstabschef Herzi Halevi. Und eine dauerhafte Friedenslösung für die Zeit danach ist höchstens ansatzweisen erkennbar.
Aus dem Blickfeld geraten ist eine wesentliche Ursache für das Desaster am 7. Oktober: das Versagen der israelischen Sicherheitskräfte. Dem umstrittenen Regierungschef Benjamin Netanjahu kommt dies gelegen. Er übernahm bislang anders als die Chefs von Armee und Geheimdiensten keine Verantwortung und hofft, das Problem «aussitzen» zu können.
Es fragt sich, ob er damit durchkommt. Druck machen die Angehörigen der mehr als 100 Geiseln, die sich noch in der Gewalt der Hamas befinden. Am Montag störten sie eine Rede von Netanjahu in der Knesset mit Sprechchören. Auch die Amerikaner als wichtigster Verbündeter fordern von Israel ein «gezielteres Vorgehen» im Gazastreifen.
US-Präsident Joe Biden steht mit Blick auf seine Wiederwahl unter Druck der eigenen Basis. Anlass zu Hoffnung ist auch, dass der befürchtete Flächenbrand bislang ausgeblieben ist. Iran als «Schutzmacht» der Hamas und der libanesischen Hisbollah scheint keine grosse Konfrontation zu riskieren. Dennoch sind die unmittelbaren Perspektiven düster.
Der Stephanstag brachte den Ukrainern ein dringend benötigtes Erfolgserlebnis. Mit einem Luftangriff gelang es ihnen, ein russisches Kriegsschiff auf der Krim zu zerstören. Zudem sollen sie mehrere Kampfjets mit Patriot-Raketen abgeschossen haben. Im Osten hingegen erzielen die russischen Invasoren Geländegewinne, wenn auch in kleinen Schritten.
Nach einigen spektakulären Erfolgen im ersten Kriegsjahr gab es für die Ukrainer zuletzt kaum noch Grund zum Jubeln. Ihre Gegenoffensive war ein Fehlschlag. Es zeigte sich, dass «konventionelle» Kriege in Zeiten von Drohnen und elektronischer Kriegführung schwer zu gewinnen sind. Die Russen haben aus Fehlern gelernt (die Ukrainer aber auch).
Bedroht wird die Ukraine zudem durch eine zunehmende «Kriegsmüdigkeit» im Westen. In den USA, dem wichtigsten Unterstützer, ist ein grosses Hilfspaket durch den Streit zwischen Demokraten und Republikanern im Kongress blockiert. In der EU heisst der Bremser Viktor Orbán, wobei laut der «Financial Times» an einem «Plan B» gearbeitet wird.
Streitigkeiten in der Führung behindern die Ukraine zusätzlich. Kein Wunder, trumpft der russische Autokrat Wladimir Putin auf. Für ihn ist der Krieg praktisch gewonnen. Hinter den Kulissen aber soll er seit September die Bereitschaft zu einem Waffenstillstand signalisiert haben, berichtete die «New York Times» in einer grossen Recherche.
Das wäre durchaus plausibel. Ursprünglich glaubte man im Kreml, den Krieg mit einem Sturmangriff auf Kiew in drei Tagen gewinnen zu können. Demnächst geht er in sein drittes Jahr, und ein Erfolg auf dem Schlachtfeld ist trotz russischem Propaganda-Lärm nicht in Sicht. Früher war Putin zudem ein rationaler Politiker, was selbst Kritiker anerkennen.
Zwar wird die Wirkung der Sanktionen durch die Umstellung auf Kriegswirtschaft abgefedert. Gleichzeitig aber versucht Putin, den Ukraine-Krieg vom Volk fernzuhalten. Selbst Analysen des Kreml haben laut «New York Times» ergeben, dass höchstens 15 Prozent der Russen die «Spezialoperation» aktiv unterstützen. Die grosse Mehrheit verhält sich apathisch.
Putin könnte ein Waffenstillstand gelegen kommen, auch mit Blick auf die russische Präsidentschaftswahl im März. Doch es gibt einen Pferdefuss: Er will sich zum Sieger erklären. «Er ist bereit, auf den heutigen Stellungen innezuhalten, aber er möchte keinen Meter zurückweichen», sagte ein ehemaliger Regierungsbeamter der «New York Times».
Für die Ukraine ist dies inakzeptabel. Sie will das gesamte von Russland besetzte Territorium zurückerobern, inklusive der Krim. Dafür hofft sie auf neue Waffen wie die F-16-Jets oder Raketen mit grösserer Reichweite. Das macht ein baldiges Ende der Kämpfe illusorisch. Auch im Ukraine-Krieg gibt es nicht viel mehr als einen Hoffnungsschimmer.
Das Jahr 2023 ist das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – einmal mehr, muss man anfügen. Dennoch tun sich immer noch viele schwer damit, den Ernst der Lage zu erkennen. Dazu tragen «selbst verschuldete» Faktoren bei wie die vom Pfad der Tugend abgekommene Ex-Ikone Greta Thunberg oder die «Klimakleber» mit ihren Störaktionen.
Entgegen ihren Behauptungen gibt es Fortschritte. So wird in der Schweiz immer mehr Solarstrom produziert. Doch nach wie vor werden fossile Energieträger mit Unsummen subventioniert, direkt und indirekt (durch die Nichtbesteuerung von Flugbenzin). Gleichzeitig wird bei den erneuerbaren Energien oft um jeden Cent gerungen.
Dabei drängt die Zeit. Wissenschaftler sind gemäss der «Washington Post» überzeugt, dass sich die Erderwärmung beschleunigen wird, mit verheerenden Folgen in Form von extremen Wetterereignissen. Andere Forscher sind zurückhaltender, ohne das Problem in irgendeiner Form zu leugnen. Für Aufsehen sorgte zudem kürzlich ein weiterer Bericht.
Demnach «rast» die Welt auf fünf Kipppunkte zu. Sie würden eine Entwicklung auslösen, die selbst bei einem Stopp des Treibhausgas-Ausstosses nicht rückgängig gemacht werden könnte. Das Verschwinden tropischer Korallenriffe wäre vielleicht verkraftbar, doch das gilt nicht für den Kollaps der Eisschilde in der Westantarktis und in Grönland.
Der damit verbundene Anstieg des Meeresspiegels würde nicht nur einige Inselstaaten bedrohen, sondern alle Küstenregionen. Immerhin listet der Bericht einige «positive» Kipppunkte auf. Dazu gehören Fortschritte bei der Elektromobilität, die zu günstigeren Batterien führen werden, oder die Produktion von «grünem» Wasserstoff und Ammoniak.
Die diesjährige Uno-Klimakonferenz, durchgeführt im Öl-Emirat Dubai und geleitet vom Ölminister, hat sich zudem auf den letzten Drücker erstmals auf die Abkehr von fossilen Energien geeinigt. Allerdings fehlt ein Bekenntnis zum Ausstieg. Weshalb auch für die Klimakrise der ernüchternde Befund gilt: Es gibt Hoffnung. Aber sie ist überschaubar.
Jahr des Aufbruchs.
Guete Rutsch!
Und dennoch: 2024 wird ein besseres Jahr als 2023. Es guets Neus 🥂