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Demokratie unter Druck – doch sind Diktaturen wirklich besser?

A fan painted her face holds a jersey with the name of Mahsa Amini, a woman who died while in police custody in Iran at the age of 22, ahead of the World Cup group B soccer match between Wales and Ira ...
Eine junge Iranerin protestiert am WM-Match gegen Wales in Katar gegen das Regime und für die tote Mahsa Amini.Bild: keystone
Analyse

Die Demokratie steht unter Druck – doch sind Diktaturen wirklich besser?

Der Demokratie geht es schlecht, während autoritäre Regime auftrumpfen. In der heutigen Zeit finden sich längst nicht mehr alle Menschen damit ab. Das sieht man in China und Iran.
04.12.2022, 05:3419.12.2022, 15:14
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Krisen sind schlechte Zeiten für freiheitliche Ideen. Und wir leben in einer Zeit, in der eine Krise auf die nächste folgt: Finanzkrise, Terrorismus, Corona, Ukraine-Krieg. Als Folge davon wird der Wohlstand im Westen durch Inflation und Energieknappheit bedroht. Daraus erwächst oft der Wunsch nach der starken und fürsorglichen Hand des Staates.

In vielen westlichen Ländern haben Parteien und Individuen aus der linken und rechten Ecke Rückenwind, die einfache Antworten auf komplizierte Fragen anbieten. Die Folge ist eine bedenkliche Erosion der Demokratie, stellt das in Stockholm ansässige Institut International IDEA in seinem am Mittwoch veröffentlichten Jahresbericht fest.

So hat sich die Meinung über einen «starken Führer» im Lauf der Zeit verändert.
So hat sich die Meinung über einen «starken Führer» im Lauf der Zeit verändert.Grafik: Global State of Democracy Report 2022

Die zwischenstaatliche Organisation, bei der auch die Schweiz Mitglied ist, hat die weltweite Demokratieförderung zum Ziel. Damit war es 2022 nicht weit her. Nur in wenigen Ländern machte die Demokratie laut dem IDEA-Bericht Fortschritte. In mehr als einem Drittel der 104 als demokratisch eingestuften Länder hingegen wurden Rückschläge verzeichnet.

Sinkende Akzeptanz der Demokratie

Europa ist keine Ausnahme. In 17 Ländern, fast der Hälfte aller Demokratien, gab es in den letzten fünf Jahren einen Abbau (die Schweiz blieb stabil). Ein weiterer bedenklicher Befund: Seit dem demokratischen «Aufbruch» in den 1990er-Jahren sinkt ihr Ansehen stetig. Autoritäre Systeme mit «starken Führern» hingegen werden zunehmend positiv bewertet.

Dafür gibt es diverse Gründe: unerfüllte Wohlstandsversprechen, Überforderung im Umgang mit Krisen, scharfe Polarisierung als Folge von gesellschaftlichen Umbrüchen, zersplitterte Parteienlandschaften. Sie tragen zur Politikverdrossenheit in demokratischen Ländern bei. Dem Westen wird zudem häufig Doppelmoral vorgeworfen, und das nicht immer zu Unrecht.

Die willigen Untertanen

Gleichzeitig preist etwa China sein vermeintlich effizientes System als überlegen an. In einer von Krisen erschütterten Welt erstaunt es deshalb wenig, dass autoritäre Regime an Akzeptanz zulegen. Es fragt sich jedoch, ob dieser Trend nachhaltig ist. Denn eigentlich sind die Zeiten vorbei, in denen sich Alleinherrscher auf willige Untertanen abstützen konnten.

Diktaturen sind archaische, «mittelalterliche» Systeme. Sie konnten sich über Jahrhunderte an der Macht halten, weil die Menschen weder lesen noch schreiben konnten und keinen Zugang zu Wissen hatten. Ihr Leben spielte sich in einem sehr überschaubaren Raum ab, und die meiste Zeit waren sie damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern.

Mehr Wissen, weniger Armut

Freiheit und Demokratie konnten sich erst etablieren, als die Schulbildung für alle eingeführt wurde und die Menschen sich ein anständiges Einkommen erarbeiten konnten. Wer nicht täglich ums Überleben kämpfen muss, entwickelt ein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Das machte die Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Erfolgsgeschichte.

Nun sind wir tief im 21. Jahrhundert, und das Problem verschärft sich. Denn das Internet trägt trotz seiner negativen Seiten dazu bei, dass die Menschheit auf einen gewaltigen Wissensfundus zugreifen kann. Auch die Armut, obwohl immer noch weit verbreitet, hat tendenziell abgenommen. Das zeigt sich unter anderem in sinkenden Geburtenraten.

Das Problem mit den Jungen

Es erstaunt deshalb nicht, dass für autoritäre Systeme die Kontrolle über das Internet höchste Priorität geniesst, auch wenn längst nicht alle sie so elaboriert beherrschen wie China mit seiner «Great Firewall». Und dass sie ihren grössten Rückhalt in den ländlichen Regionen haben, die bis heute von Rückständigkeit und Armut geprägt sind.

Die Gesichter des Protestes im Iran

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Die Gesichter des Protestes gegen das Regime in Iran
Der Auslöser für die Proteste war der Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini. Die 22-Jährige starb wohl, weil sie ihr Kopftuch nicht so getragen hatte, wie die iranischen Mullahs und das iranische Gesetz es für Frauen vorsehen. Die genauen Umstände ihres Todes sind noch unklar. Amini wurde zu einer Ikone im Kampf für Freiheit.
quelle: keystone / abedin taherkenareh
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Dem steht eine jüngere, gebildete, urbane Schicht gegenüber. Sie wird für die Diktaturen schon heute zum Problem. Das zeigte sich bei den heftigen Protesten in Myanmar, nachdem sich das Militär an die Macht zurück geputscht hatte. Das zeigt sich in Russland, wo seit dem Einmarsch in die Ukraine Hunderttausende aus dem Land geflüchtet sind.

Beispiel Iran

Besonders interessant ist die Entwicklung in China und Iran. Die Islamische Republik ist eine Theokratie, die «weltliche» Hochschulen zulässt, die erst noch mehrheitlich von Frauen besucht werden. Gleichzeitig werden sie vom Mullah-Staat als Menschen zweiter Klasse behandelt. Der Kopftuchzwang in der Öffentlichkeit ist nur ein Beispiel dafür.

Als logische Folge davon kommt es in diesem Spannungsfeld seit Jahren immer wieder zu heftigen Eruptionen, in Form von Unruhen und Protesten. Jetzt brachte der Fall der jungen Kurdin Mahsa Amini, die vermutlich wegen eines nicht «korrekt» sitzenden Kopftuchs von der «Sittenpolizei» zu Tode geprügelt wurde, das Fass zum Überlaufen.

Demonstrationen und Proteste halten das Land seit Wochen in Atem, mit den Universitäten als «Hotspots». Weil es dem wegen seines Atomprogramms massiv sanktionierten Iran wirtschaftlich schlecht geht, kennt das Regime, das sich auf einen byzantinischen Macht- und Repressionsapparat abstützt, darauf keine andere Antwort als rohe Gewalt.

Die Revolutionsgarden oder die prügelnden Basidsch-Milizen gehen mit grösster Brutalität gegen die Aufständischen vor. Beobachter zweifeln deshalb, dass die jetzige Protestwelle das Mullah-Regime ernsthaft gefährden oder gar stürzen könnte. Aber Iran hat eine sehr junge Gesellschaft. Das letzte Wort in diesem Konflikt ist mit Sicherheit nicht gesprochen.

Beispiel China

epa10332665 Protesters hold blank white pieces of paper during a protest triggered by a fire in Urumqi that killed 10 people in Beijing, China, 27 November 2022. Protests against?s China strict Covid  ...
Vorwiegend junge Menschen protestierten in Peking (Bild) und anderen Städten gegen die Zero-Covid-Politik.Bild: keystone

Ein weiteres aktuelles Beispiel ist China. Dort kam es vor rund einer Woche zu den grössten Protesten gegen die Kommunistische Partei seit der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen in Peking 1989. Wobei «gross» ein relativer Begriff ist. Meist waren es ein paar hundert oder allenfalls tausend Personen. Doch auch hier waren es vor allem die Jungen.

Die Kundgebungen mit einem leeren Blatt Papier als Protest gegen die Zensur dürften nur die Spitze des Eisbergs sein. Denn der Unmut über die Zero-Covid-Politik mit permanenten Massentests und willkürlichen Lockdowns hat breite Kreise der Bevölkerung erfasst, erst recht seit sie am Fernsehen die Fussball-WM in Katar verfolgt.

Viele Chinesen fragten sich angesichts tausender unmaskierter Fussballfans, auf welchem Planeten sie leben. Die Partei reagierte auf die Proteste mit Zuckerbrot und Peitsche. Sie drohte mit einem harten Vorgehen der Sicherheitskräfte. Gleichzeitig wurden erste Lockerungen angeordnet. Offensichtlich versucht die Regierung, sich aus der Sackgasse zu befreien, in die sie sich selbst hineinmanövriert hat.

«Nieder mit Xi Jinping!»

Video: watson/Fabian Welsch

Das totalitäre Regime Chinas setzte anders als das iranische bei der Disziplinierung der Bevölkerung lange auf «Softpower». Es versprach ihr Wohlstand und Effizienz als Gegenleistung für Gehorsam. Zero Covid stellt dies infrage, doch seit Staatschef Xi Jinping die Partei unter seine Knute gebracht hat, ist Ideologie wichtiger als Pragmatismus.

Ob diese Strategie langfristig funktioniert, bleibt vorerst offen. Chinas Repression basiert im Gegensatz zur iranischen weniger auf Gewehren und Knüppeln als auf einem digitalen Überwachungsstaat. Dazu gehören allgegenwärtige Überwachungskameras samt Gesichtserkennung ebenso wie die Covid-Apps, die als Tracking-Instrument dienen.

Noch haben autoritäre Systeme und «starke Männer» Aufwind. Trotzdem fragt man sich, wie «mittelalterliche» Diktaturen auf Dauer mit den Ansprüchen einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts kompatibel sein wollen. Die Demokratie mag in Verruf geraten sein, aber ihre Errungenschaften materieller Art sind auch bei Gewaltherrschern hoch im Kurs.

Die Systemfrage ist nicht entschieden, denn die Welt wird nicht so schnell aus dem Krisenmodus herausfinden (vom Klima war hier noch gar nicht die Rede). Vielleicht gelingt es den Diktaturen, dank ihres Arsenals an repressiven Mitteln die Bevölkerung weiterhin zu unterdrücken, ungeachtet der Kosten für die Gesellschaft, die dadurch entstehen.

Vielleicht aber setzt sich langfristig doch die Erkenntnis durch, dass die Demokratie mit ihren «Checks and Balances» das überzeugendste «Gesamtpaket» bietet. Oder um Winston Churchill zu zitieren: «Demokratie ist die schlechteste Regierungsform – abgesehen von allen anderen.»

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30 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Verbesserer
04.12.2022 08:36registriert Mai 2020
"Krisen sind schlechte Zeiten für freiheitliche Ideen. Und wir leben in einer Zeit, in der eine Krise auf die nächste folgt: Finanzkrise, Terrorismus, Corona, Ukraine-Krieg“
Wer die Demokratie verteufelt verliert die Freiheit und das Leben! Wollen wir das wirklich?
Ich nicht.
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Kommentar*innen
04.12.2022 08:53registriert Juni 2018
Herr Blunschi, ich gratuliere Ihnen zu diesem Artikel 👏🏻👏🏻👏🏻

Wie viele bereits merken, setze ich mich für die Anliegen der Revolutionär:innen im Iran ein. Das Mullah-Regime mag zwar das Internet „abstellen“, doch die gebildeten Jungen wissen sich zu helfen. Stichwort: VPN. Bilder, Videos, Nachrichten gehen damit um die Welt, in den Iran, geben Toten Vor- und Nachnamen, zeigen die brutalen Massaker des Regimes gegen die eigene Bevölkerung.

Wie glücklich wir uns schätzen dürfen in der einzigen direkten Demokratie der Welt zu leben. Nutzen wir diese Chance, helfen wir anderen. #MahsaAmini
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raues Endoplasmatisches Retikulum
04.12.2022 09:23registriert Juli 2017
So lange sowohl in der Ukraine und auch im Iran die Menschen explizit bereit sind, für ihre Freiheit zu kàmpfen und auch zu sterben, darf man optimistisch sein.
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Ex-Tennisprofi Boris Becker ist nach Angaben seines Anwalts nicht mehr insolvent. «In Folge einer Einigung mit seinen Insolvenzverwaltern wurde die in 2017 eröffnete, private Insolvenz von Boris Becker durch eine gestrige Entscheidung des High Court in London rechtskräftig beendet», teilte Anwalt Christian-Oliver Moser am Donnerstag im Namen des 56-Jährigen der Deutschen Presse-Agentur mit. Das Gericht habe die sofortige Restschuldbefreiung angeordnet. Das bedeute, «dass unser Mandant von jeglicher weiteren Haftung aus den Insolvenzschulden befreit ist».

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