Die ganze Welt schaut derzeit auf den Nahen Osten und vielleicht noch ein bisschen auf die Ukraine. Dass derweil in Polen am vergangenen Sonntag die wohl wichtigsten Wahlen seit drei Jahrzehnten stattgefunden haben, ist weitgehend unbemerkt geblieben. Dabei ist es um sehr viel gegangen. Nicht nur, ob der polnische Rechtsstaat und die Demokratie überleben. Ein Sieg der Rechtspopulisten hätte auch eine Zerreissprobe für die EU bedeutet. Aber der Reihe nach:
In den vergangenen acht Jahren wurde Polen von der rechtspopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regiert. Der starke Mann dieser Partei, Jarosław Kaczyński, folgte dabei dem Drehbuch von Viktor Orbán, dem Premierminister von Ungarn.
Wie in Ungarn wurden die Medien weitgehend gleichgeschaltet und voll und ganz in den Dienst der Staatspropaganda gestellt. Es gibt zwar noch eine unabhängige TV-Station – sie ist im Besitz einer amerikanischen Gesellschaft –, doch es handelt sich dabei um eine Pay-TV-Station, etwas, das sich die einfachen Polen nicht leisten wollen oder können.
Kaczyński hat auch dafür gesorgt, dass die Justiz zum Diener der PiS wurde. Unabhängige Richter wurden entweder in Frührente geschickt oder unter durchsichtigen Vorwänden entlassen. Auch die Verwaltung wurde mit loyalen PiS-Leuten bestückt. «Vor 2015 hatte Polen zwar keine perfekte, aber eine weitgehend apolitische Verwaltung», stellt Anne Applebaum im «Atlantic» fest. «Inzwischen hat Polen die unpolitischen Beamten in eine systematische Vetterliwirtschaft gezwungen.» Die Historikerin Applebaum ist Spezialistin für die Geschichte von Osteuropa und mit dem ehemaligen polnischen Aussenminister, Radek Sikorski, verheiratet.
Selbstverständlich wurde auch das, was im Amerikanischen «Gerrymandering» genannt wird, im grossen Stil betrieben. Will heissen, die Wahlkreise wurden so aufgeteilt, dass die PiS davon massiv profitiert.
Natürlich durften auch Verschwörungstheorien nicht fehlen. Die bedeutendste davon dreht sich um ein Flugzeugunglück im Jahr 2010. Damals stürzte bei der russischen Stadt Smolensk ein Flugzeug ab, in dem eine polnische Regierungsdelegation sass. Auch Kaczyńskis Zwillingsbruder Lech – er war damals Präsident – war eines der 96 Opfer.
Der Absturz war ein Unfall, das bestätigen unzählige Abklärungen. Trotzdem hat die PiS daraus eine Verschwörungstheorie konstruiert, die besagt, dass der Absturz von den Russen orchestriert und von Donald Tusk, dem damaligen polnischen Premierminister, vertuscht worden sei. Diese absurde These hat bei den polnischen Rechtskonservativen etwa den gleichen Stellenwert wie die Big Lie bei den amerikanischen Republikanern.
Die PiS befand sich auch in einem Dauerstreit mit der EU. Weil Brüssel nicht akzeptiert, dass der Rechtsstaat ausgehöhlt wird, wurden die Hilfsgelder zu Bewältigung der Covid-Krise eingefroren. Gleichzeitig versuchten Kaczyński & Co., die alte Feindschaft mit Deutschland wieder zu einem zentralen Wahlkampfthema zu machen. Es wurden absurde Forderungen an die Adresse von Berlin gestellt. Oppositionsführer Tusk wurde derweil als vermeintliche Marionette der Deutschen verunglimpft.
Überhaupt war der Wahlkampf unglaublich dreckig. Die PiS hat keinen schmutzigen Trick ausgelassen. So wurde parallel zur Wahl eine Abstimmung über ein Referendum durchgeführt, in der es galt, so idiotische Fragen zu beantworten wie: «Wollt ihr unterstützen, dass tausende von illegalen Immigranten aus dem Nahen Osten und Afrika zu uns kommen?». Gleichzeitig ermöglichte dieses Referendum der PiS, weit mehr Geld für den Wahlkampf auszugeben als rechtlich erlaubt ist.
Genutzt hat es nicht. Zwar sind die Resultate noch nicht definitiv, doch die Hochrechnungen zeigen, dass die Opposition die Wahlen höchstwahrscheinlich gewonnen hat. Konkret sind dies drei Parteien, welche sich zu einer Allianz gegen die PiS zusammengeschlossen haben. Diese bleibt zwar die stärkste Partei, sie hat jedoch zu wenig Sitze, um eine Regierung bilden zu können. «Das ist das Ende der schlechten Zeiten», jubelt daher Oppositionsführer Tusk. «Das ist das Ende der PiS-Regierung. Wir haben es geschafft. Polen hat gewonnen, die Demokratie hat gewonnen.»
Freude herrscht auch in Brüssel und in Kiew. Der EU bleibt so eine Zerreissprobe mit Warschau erspart, eine Zerreissprobe, welche wohl unumgänglich geworden wäre, hätte PiS die Wahlen gewonnen. In Kiew kann man ebenfalls aufatmen, denn die Unterstützung des Nachbarn dürfte bis auf Weiteres gesichert sein. Das ist sehr bedeutend. In der Slowakei hat kürzlich Robert Fico die Wahlen gewonnen, ein Rechtspopulist, der die Hilfe an die Ukraine einstellen will. Auch Kaczyński ist im Wahlkampf zunehmend auf Distanz zu Kiew gegangen.
Wie erwähnt, die Resultate sind noch nicht endgültig, und weil die Wahlbeteiligung der rund 30 Millionen wahlberechtigten Polen aussergewöhnlich hoch war, müssen auch die Hochrechnungen mit Vorsicht zur Kenntnis genommen werden.
Zudem ist nicht auszuschliessen, dass Kaczyński versuchen wird, einen auf Trump zu machen und das Wahlresultat zu leugnen. Er hat bereits gedroht: «Vor uns liegen Tage des Kampfes und Spannungen. Wir müssen hoffen und daran glauben, dass wir unsere Ziele weiter erreichen werden, sei es, dass wir an der Macht bleiben, oder sei es, dass wir in die Opposition müssen.»
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