Seit der ukrainischen Offensive im Herbst 2022 hat es so etwas nicht mehr gegeben: Mechanisierte Verbände der Ukrainer rücken schnell vor, umgehen oder überwinden russische Befestigungen und stossen tief in feindliches Gebiet hinein. Der Überfall auf russisches Territorium, in die Region Kursk, kam am 6. August vollkommen überraschend.
Dabei sieht die Lage an der übrigen Front und vor allem weiter südlich im Donbass für die Ukrainer nicht rosig aus. Überall beklagen sich Einheiten über den Mangel an Soldaten. Wer in einem solchen Moment eine Offensive an einem bisher stiefmütterlich behandelten Frontabschnitt vom Zaun bricht, muss also gute Argumente haben.
In nur vier Tagen haben die Angreifer schätzungsweise 200 Quadratkilometer, vielleicht aber auch viel mehr, unter ihre Kontrolle gebracht. Für eine vergleichbare Fläche brauchten die Russen letzthin ein bis zwei Monate. Während an der bisherigen Front vor allem Stellungskrieg, unterbrochen durch einzelne Vorstösse mit Infanterie und Panzerunterstützung, herrschte, können die Ukrainer im Oblast Kursk einen Bewegungskrieg führen. Sie nützen die Schwäche der dortigen Truppenverbände aus, um wichtige Ortschaften einzunehmen sowie Strassen und Eisenbahnlinien zu blockieren. Laut russischen Angaben setzen die Ukrainer dabei auch Schwärme von Kampfdrohnen und viele elektronische Kampfmittel wie Störsender ein.
Wie tief die Ukrainer bis am Freitag vorgerückt sind, lässt sich nicht zuverlässig sagen. Ein russischer Konvoi, der wahrscheinlich Verstärkungen ins Kampfgebiet bringen sollte, wurde am östlichen Rand des russischen Strassendorfs Oktiabr'skoe vollständig vernichtet. Der Ort ist in Luftlinie mehr als 35 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.
Eines ist bisher klar: Mit dem Vorstoss hat Kiew zumindest an einem Teil der Front die Initiative an sich gerissen, die nun schon seit über acht Monaten bei den Russen lag. Damit wird die Moral der Truppe und der kriegsmüden Bevölkerung gestärkt. An der teils prekären Lage der Ukrainer hat die Offensive vorerst aber nichts geändert. Zweitens beschert die bisher schwache Leistung der russischen Armee auf dem eigenen Boden Putin erheblichen Gesichtsverlust. Der Krieg, den man in Russland nicht einmal so nennen darf, dringt nun tiefer ins Bewusstsein der Bevölkerung ein.
Drittens zeigt die Offensive, dass die Ukraine durchaus über Reserven verfügt, auch wenn das manche Leitmedien gerne in Abrede stellen. Auf der andern Seite lässt die bisher schwache russische Gegenwehr vermuten, dass Moskau den Hauptharst seiner Streitmacht im Donbass einsetzt. Russlands menschliche Ressourcen sind zwar fast unermesslich, doch nützt das wenig, wenn aktuell nicht genügend ausgebildete und bewaffnete Reserven zur Verfügung stehen.
Was will Kiew erreichen, ausser die eigene Moral zu stärken? Bisher hüllen sich die Ukrainer in Schweigen. Ziemlich offensichtlich scheint es aber, dass Russlands Militärführung dazu verleitet werden soll, Truppen von anderen Frontabschnitten, etwa bei Charkiw oder im Donbass abzuziehen und als Verstärkung nach Kursk zu schicken. Damit würden die ukrainischen Verteidiger weiter südlich entlastet.
Ähnliches bezweckten die Russen im Mai mit ihrem Vorstoss Richtung Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine. Die Offensive wurde für die Russen zwar zum Desaster, zwang die Ukrainer aber, erfahrene Kampfverbände aus dem Donbass nach Charkiw zu verlegen. Danach dauerte es nicht lange, bis sich die russischen Geländegewinne im Donbass beschleunigten.
Neben den rein militärischen scheint es aber auch politische Überlegungen zu geben: Sollte Trump in den USA die Präsidentschaftswahlen gewinnen, könnte Washington den Druck auf Kiew erhöhen, sich in Verhandlungen auf einen faulen Kompromiss mit Moskau einzulassen - also Putin erhebliche Gebietskonzessionen anzubieten. Und selbst wenn Kamala Harris das Rennen macht, könnte es zu Friedensgesprächen kommen. Zumindest legen Präsident Selenskis letzte Äusserungen nahe, dass Verhandlungen mit Moskau nicht mehr vollkommen ausgeschlossen sind.
Um die Zugeständnisse an Moskau im Rahmen zu halten, sucht Kiew in Kursk möglicherweise Gebietsgewinne als Pfand, das man in Gesprächen gegen russisch besetzte Zonen in der Ukraine tauschen könnte. Das setzt aber voraus, dass die Ukrainer den bisher eroberten Boden in Kursk auch tatsächlich halten. Es gibt zwar Anzeichen, dass sich Kiews Soldaten mancherorts eingraben, aber wahrscheinlich möchte die Militärführung den Bewegungskrieg möglichst lange weiterführen.
Kiew geht damit allerdings auch ein grosses Risiko ein: Es hat mutmasslich mehrere Tausend Soldaten in die Region Kursk entsandt, mit einer grossen Zahl an Schützenpanzern. Sollte es diesen mechanisierten Verbänden im Fall eines russischen Grossangriffs nicht gelingen, sich geordnet in die Ukraine zurückzuziehen, würde ein Debakel drohen.
Dass Moskau Vergeltung üben und weitere Verstärkungen nach Kursk schicken wird, gilt als so sicher wie das Amen in der Kirche. Deshalb erscheint es heute unwahrscheinlich, dass die Ukrainer die Stadt Kursk oder das in der Nähe befindliche Atomkraftwerk angreifen werden. Immerhin ist das AKW rund 60 Kilometer von der Grenze entfernt.
Warum aber hat Kiew ausgerechnet den jetzigen Zeitpunkt gewählt, wo die Front bei den Städten Pokrowsk und Torezk im Donbass unter grossem Druck steht? Die spekulative Antwort lautet so: Bisher sind die Russen im Donbass mehrheitlich durch ländliches Gebiet vorgestossen. Nun stehen sie am Stadtrand von Torezk (vor dem Krieg rund 34'000 Einwohner) und nur wenige Kilometer von Pokrowsk (65'000 Einwohner) entfernt. Erfahrungsgemäss dauern Kämpfe um Ortschaften dieser Grössenordnung mehrere Monate. Vielleicht ist Kiew überzeugt, dass der russische Vormarsch in einer dieser Städte gestoppt werden kann. (aargauerzeitung.ch)
Es scheint,als ob es um Putin einsam wird wie einst um Hitler.Wir wissen nicht,was sich genau im Kreml abspielt,aber er scheint,dass es dort Bewegung gibt.Der schnellste Weg für Frieden ist ein Umdenken im Kreml.