«Iran und Russland profitieren letztlich vom Chaos im Nahen Osten. Deshalb müssen die USA und Europa zusammen mit den arabischen Staaten eine Lösung finden, welche die Anliegen der Palästinenser berücksichtigt, und die man möglicherweise Israel aufzwingen muss», erklärte Ex-General Ben Hodges in einem Interview mit watson.
Hodges war Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa. Seine Idee einer De-facto-Vormundschaft über Israel ist nicht neu. Nach der zweiten Intifada, einem Aufstand der Palästinenser, schrieb Martin Indyk, US-Botschafter in Israel von 1997 bis 2000, im Magazin «Foreign Affairs»: «Ohne eine Art von internationaler Intervention werden Israelis und Palästinenser weiter sterben, und ihre Lebensumstände werden sich weiter verschlechtern. Das heizt die Wut auf die Vereinigten Staaten in der muslimischen Welt an und gefährdet die Zukunft von Israel.»
Israel werde es niemals zulassen, unter Vormundschaft gestellt zu werden, lautet der logische Einwand gegen diesen Vorschlag. «Die Vorstellung, dass Israel niemals fremde Truppen auf seinem Boden akzeptieren kann, wird durch die Tatsache entkräftet, dass Israel zwischen 1991 und 2003 amerikanische Teams begrüsst hatte, die geholfen haben, Systeme gegen Luftangriffe aus dem Irak abzuwehren», entgegnete Indyk schon damals.
Angesichts dessen, was sich derzeit im Gazastreifen abspielt, wird die Idee einer internationalen Friedenstruppe im Nahen Osten brandaktuell. Doch sie hat nur dann eine Chance, wenn zuvor ein grosses Hindernis aus dem Weg geschaffen wird. Es trägt einen Namen und heisst Benjamin Netanjahu.
Bibi muss weg! In diesem Punkt sind sich immer mehr Israelis und internationale Experten einig. In 14 langen Jahren als Premierminister hat Netanjahu alles unternommen, um sich als «Mr. Sicherheit» und «Mr. Wirtschaft» zu etablieren. Nach dem Massaker vom 7. Oktober ist dieses Image endgültig im Eimer. Gemäss einer Umfrage der Zeitung «Maariv» wollen vier von fünf Israeli, dass er die Verantwortung für das Aufklärungs- und Sicherheits-Desaster übernimmt (zitiert nach der «Financial Times»). Nur 29 Prozent wollen ihn weiterhin als Premierminister im Amt sehen. 48 Prozent ziehen Benny Gantz vor.
Netanjahu hat nicht nur das Vertrauen seiner Landsleute verloren. Nach wie vor stösst er auch seine Verbündeten vor den Kopf. So hat er soeben US-Aussenminister Antony Blinken rüde abblitzen lassen. Als dieser eine Verschnaufpause im Feldzug gegen Gaza einforderte, um dringend benötigte Hilfslieferungen an die zivile Bevölkerung zu ermöglichen, blockte der israelische Premierminister sofort ab.
Vor allem jedoch hat Netanjahu im Kampf gegen die Hamas vollkommen versagt. Ami Ajalon, der ehemalige Kommandant der israelischen Marine, Gilead Sher, der ehemalige Stabschef von Premierminister Ehud Barak, und Orni Petruschka, ein ehemaliger Tech-Unternehmer, sprechen ebenfalls in «Foreign Affairs» Klartext: «Um die Hamas militärisch zu besiegen, muss Israel eine Langzeit-Strategie entwickeln. Premierminister Benjamin Netanjahu ist dazu nicht in der Lage. Er kann weder den Krieg gegen die Hamas organisieren, noch einen nachhaltigen Frieden sichern.»
Frieden im Nahen Osten kann es nur geben, wenn endlich die Zweistaaten-Lösung realisiert wird. Diese wurde schon 1993 im Abkommen von Oslo unter der Aufsicht der USA zwischen Israel und den Palästinensern im Grundsatz beschlossen, jedoch nie in die Tat umgesetzt. Ein Grund dafür war Netanjahu. Er will den Palästinensern keinen eigenen Staat zubilligen und unternahm daher alles, dies zu verhindern.
Netanjahu ging dabei so weit, dass er gar die Hamas unterstützte, um so Zwietracht unter den Palästinensern zu sähen. Die Terror-Organisation regiert im Gazastreifen. In der Westbank ist die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) an der Macht. Die beiden liegen sich in den Haaren. Diesen Zwist wollte Netanjahu ausnützen, um die Zweistaaten-Lösung zu verhindern.
«Er vertritt die unglückselige Vorstellung, wonach eine Hamas-Regierung gut sei für Israel», stellen Ajalon, Sher und Petruschka fest. Deshalb liess Netanjahu zu, dass Katar die Hamas im grossen Stil finanziell unterstützt und willigte ein, dass 1000 Hamas-Kämpfer gegen einen einzigen israelischen Soldaten ausgetauscht wurden. Zudem blockte er Versuche der Weltbank zur Unterstützung der Bevölkerung des Gazastreifens ab, weil dabei die PA involviert gewesen wäre.
Stattdessen legte sich Netanjahu für die Siedler in der West-Bank ins Zeug. Dadurch verstösst er nicht nur gegen das Abkommen von Oslo, er reizte auch die Palästinenser bis aufs Blut. Auf Druck seiner ultrarechten Koalitionspartner liess er es auch zu, dass die Siedler sich in der Westbank weiter ausbreiten und die Palästinenser schikanieren konnten.
Auf Druck seiner Koalitionspartner brach Netanjahu auch einen Streit um das höchste Gericht vom Zaun. Weil Israel keine Verfassung hat, ist dieses Gericht eine Art Schiedsrichter und legt sein Veto ein, wenn die Regierung gegen Rechtsstaat und Demokratie verstösst. Deshalb will die konservative Regierung die Macht des höchsten Gerichts einschränken. Damit löste sie eine Demonstrationswelle von bisher unbekanntem Ausmass aus und spaltete das Land zutiefst. Darunter hat nicht zuletzt die nationale Sicherheit gelitten.
Nur eine Zweistaaten-Lösung kann im Nahen Osten einen nachhaltigen Frieden sichern. Dazu muss die Hamas besiegt werden. Sollte dies gelingen, dann entsteht ein politisches Vakuum. Es kann nicht im Interesse Israels sein, dieses Vakuum auszufüllen. «Es (Israel) muss stattdessen helfen, einen Prozess in Gang zu setzen, bei dem eine internationale Truppe, die von Israel, der PA und den Vereinigten Staaten koordiniert wird – und bei der auch die angrenzenden, arabischen Staaten wie Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien mitmachen – die Verantwortung für eine Übergangsperiode übernimmt. Zumindest so lange, bis die öffentliche Ordnung und die Infrastruktur wieder hergestellt sind», stellen Ajalon, Sher und Petruschka fest.
Ob dieses Unterfangen gelingen kann, muss sich weisen. Die Hürden sind sehr hoch. Die Siedlungsfrage in der Westbank bleibt eine ungeklärte und extrem umstrittene Frage. Eines kann man jedoch mit Sicherheit sagen: Netanjahu hat in diesem Szenario keinen Platz; und je schneller er seinen Posten räumt, desto besser.
Die Israelis werden minutiös aufarbeiten wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte und weder Bibi noch seine Koalitionspartner werden dabei gut aussehen.