Wir alle haben schon einmal unsere Hälse gereckt, als wir an einer Unfallstelle vorbeigefahren oder -gelaufen sind. Wir alle klicken auf Schlagzeilen, die uns einen kalten Schauer über den Rücken jagen. Wir alle werden angezogen vom Makabren und vom Schrecklichen.
Aus demselben Grund lassen wir uns von Horrorfilmen schockieren oder tauchen mittels True-Crime-Podcasts in die tiefsten Abgründe der menschlichen Psyche ein. Doch die Auseinandersetzung mit dem Bösen kann das gesunde Mass überschreiten, wenn man mit realen, expliziten Gewaltdarstellungen konfrontiert wird, warnen Psychologinnen und Psychologen.
Wieso morbide Neugier in der heutigen Zeit zu einem immer grösseren Problem wird und wie der Kampf um Gerechtigkeit erhebliche mentale Risiken mit sich bringen kann.
Musste sich der Mensch für eine Portion Nervenkitzel lange Zeit mit Schauerliteratur begnügen, konnte er sich 1896 erstmals auch visuell gruseln. In diesem Jahr wurde der Film erfunden und die Filmemacher loteten die technischen Möglichkeiten umgehend aus, um gruselige Effekte zu erzeugen. Mit «Le Manoir du diable» war 1896 der erste Horrorfilm geboren.
Noch waren die Filme damals stumm, schwarz-weiss und die Effekte klar als solche erkennbar. Horror und Angst wurde – wenn überhaupt – mehr durch die Atmosphäre als durch grafische Bilder erzeugt. Doch mit der Weiterentwicklung der Technologie wuchsen auch die Möglichkeiten. Spritzendes Blut, aufgeschlitzte Körper, Folter mit verschiedenen Instrumenten, Kannibalismus. Ab 1960 wuchs die Brutalität in Horrorfilmen, die Darstellung von exzessiver Gewalt und Blut wurde zum Hauptmerkmal des Genres. Auch wenn solche sogenannten Slasher- und Splatterfilme immer wieder schockierten und polarisierten, so waren sie schlussendlich doch eines: fiktiv.
Die Veröffentlichung des Horrorfilmes «Faces of Death» (Gesichter des Todes) im Jahr 1978 änderte dies. In diesem Streifen präsentiert ein Pathologe im Stile eines Dokumentarfilms verschiedene Arten des Sterbens. Während etwa die Hälfte des Videomaterials gefälscht und nachgespielt ist, enthält die andere Hälfte echtes Material. Der Film zeigt unter anderem Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang, Operationen, Hinrichtungen und Folter. Trotz der grossen Empörung und der schlechten Reviews, die der Film generierte, klingelten die Kinokassen – der Film soll 35 Millionen Dollar eingespielt haben. In vielen Ländern wurde er verboten, in anderen war er zensiert oder ungeschnitten als Videokassette zu kaufen.
Es folgten weitere Fortsetzungen und ähnliche Filme, die fast nur noch aus echtem Videomaterial bestanden.
Mit dem Aufkommen des Internets konnten die in den Filmen verwendeten Clips schliesslich auch online gestreamt werden. Es entstanden Websites, wie beispielsweise rotten.com im Jahr 1996, die sich einzig und allein dem Zeigen verstörender Darstellungen widmen. Von Unfällen, brutaler Pornografie über Suizide bis hin zu Gewalttaten kriegt man auf solchen Schocker-Webseiten alles zu sehen. Gewalt und Tod sind seither zu Akten geworden, die von Millionen von Menschen konsumiert werden können. Rotten.com ist seit 2012 inaktiv, doch Schocker-Webseiten und entsprechende Foren gibt es noch immer.
Auch islamistische Extremisten begannen, sich die Möglichkeiten des Internets zunutze zu machen: Im Februar 2002 veröffentlichten Terroristen in Pakistan ein Video, das die Enthauptung des amerikanischen «Wall Street Journal»-Journalisten Daniel Pearl zeigt. Es markierte das erste von vielen weiteren folgenden Enthauptungsvideos zu Propagandazwecken. Auch sie landeten auf den Schocker-Webseiten.
Noch immer galt: Wollte man die Videos sehen, musste man danach suchen. Der Aufstieg der sozialen Medien änderte dies allerdings. Auf Facebook war das Teilen von Videos ab 2007, auf Twitter ab 2010 möglich. Instagram folgte 2013. Sie läuteten eine neue Ära ein, in der sich Schockvideos über die Grenzen ihrer ursprünglichen Nischen-Websites hinweg verbreiteten.
Auf sozialen Plattformen wie Twitter, Facebook und Instagram kann jede registrierte Person Inhalte teilen. Diese werden zwar gemäss bestimmter Richtlinien geprüft, doch bis diese Prüfung abgeschlossen ist, bleiben diese Inhalte im Netz. Und sind sie einmal da, ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, sie wieder daraus zu entfernen – insbesondere dann, wenn sie viral gehen. So kommt es im Zeitalter der sozialen Medien immer häufiger vor, dass man ungewollt über schockierendes Videomaterial stolpert – und manchmal ist man dennoch versucht, es sich anzuschauen.
Hinter dem Reiz, grausames Videomaterial zu schauen, steckt laut des Psychologen Dr. Lee Chambers oft eine morbide Neugier. Gegenüber dem Magazin Salon erklärt er:
Die Möglichkeit, Angst und emotionalen Schmerz durch Videos erleben zu können, könne deshalb reizvoll und neu sein, so Chambers weiter. Ein Gore-Enthusiast (eine Person, die gerne Verstümmelungsvideos schaut) erklärte im 2019 gesperrten Subreddit r/watchpeopledie den Anreiz solcher Videos damit, dass sie den Menschen mit der harten Realität konfrontierten. Andere sagten, dass diese Videos ihnen klarmachten, wie fragil und wertvoll das Leben sei. «Guardian»-Journalist Kieran Dahl, der über die Thematik von Gewaltvideos berichtete, zweifelt diese Erklärungen an. Nur schon beim Durchlesen der Videotitel (die wir euch hier ersparen) ergriff ihn das pure Grauen. Die von den Usern genannten Erklärungen klangen in seinen Ohren deshalb etwa so aufrichtig wie die Aussage: «Ich lese den ‹Playboy› wegen der Artikel».
Laut einer Studie aus dem Jahr 1995 zeichneten sich Gore-Enthusiasten typischerweise durch geringeres Einfühlungsvermögen und eine hohe Sensationslust aus. Ein Gore-Konsument räumte gegenüber dem Online-Magazin Unherd ein, dass es der körperliche Kick sei, der ihn dazu bewege, Menschen beim gewaltsamen Sterben zuzuschauen:
Tatsächlich macht es auf die Wahrnehmung einen Unterschied, ob ein gewaltsames Video gestellt oder real ist. Auch ob man bewusst oder unfreiwillig mit solchen Inhalten konfrontiert wird, beeinflusst die Reaktion darauf, sagt Neil Greenberg gegenüber BBC. Laut des Professors für Psychiatrie am King's College in London können Menschen, die sich bewusst dazu entscheiden, ein grausames Video anzusehen, besser damit umgehen, als wenn sie zufällig darüber stolpern.
Auch die Medien spielen hierbei eine Rolle. Viele Menschen seien sich der Auswirkungen von Medienberichterstattung nicht bewusst, sagt Roxane Cohen Silver, Professorin für Psychologie und Sozialverhalten an der University of California, Irvine. In einer von ihr geleiteten Studie wollte sie zeigen, wie sich die Berichterstattung über ein gewaltsames Ereignis auf den Menschen auswirkt. Dazu befragte sie Menschen im Jahr 2015 kurz nach den Bombenanschlägen beim Boston-Marathon zu ihrem Wohlbefinden. Sie kam zum Schluss, dass Menschen, die der Berichterstattung über die Bombenanschläge mehr als sechs Stunden täglich ausgesetzt waren, mehr psychologische Traumata erlitten als die tatsächlichen Opfer oder Zeugen des Bombenanschlags.
Am stärksten betroffen sind aber diejenigen Menschen, die sich regelmässig mit visueller Gewalt auseinandersetzen müssen. So etwa Medienschaffende, Extremismus- und Terrorismusforschende oder Menschen, die Inhalte in den sozialen Medien moderieren. Sie alle leisten unerlässliche Arbeit für die Gerechtigkeit, indem sie tagtäglich grausamstes Videomaterial filtern oder analysieren. Die genaue Auswirkung solcher Inhalte auf die Psyche ist noch nicht ausreichend erforscht. Eine der ersten Studien hierzu ist im August letzten Jahres unter der Leitung der Trauma-Forscherin Arija Birze erschienen. In Interviews mit 16 Fachleuten aus der Strafjustiz stellte sie fest, dass das Risiko des stellvertretenden Traumas in diesem Bereich immer mehr zu steigen scheint:
Wie traumatisch die Arbeit in der Inhaltsmoderation sein kann, verdeutlicht der 2018 erschienene deutsche Dokumentarfilm «The Cleaners» (Im Schatten der Netzwelt).
Das einmalige Anschauen von Gewaltdarstellungen resultiert üblicherweise nicht sofort in einem Trauma. Dennoch können sich die Bilder im Gehirn festsetzen, wo sie immer wieder als grausige Erinnerung ins Bewusstsein treten können.
Manchmal, so argumentieren einige, sei das nötig. Wenn man den Ungerechtigkeiten der Welt niemals ausgesetzt sei, dann werde sich auch nie etwas ändern. Damit gemeint ist beispielsweise Polizeigewalt: Man erinnert sich an das Video von dem Schwarzen George Floyd, der im Mai 2020 starb, nachdem er fast 10 Minuten lang von Polizisten brutal zu Boden gedrückt worden war. Das Video sorgte weltweit für Bestürzung und gab dem Kampf gegen Rassismus neuen Aufschwung.
Gegenüber Vice erklärt Dr. Dion Metzger, ein Psychiater mit Fachkenntnissen auf dem Gebiet von Trauma durch Massenmedien, dass das Sehen von Ungerechtigkeit mit den eigenen Augen einen anderen Effekt habe, als bloss darüber zu reden:
Heisst das nun, dass man Videos, wie das Enthauptungsvideo des Ukrainers, teilen sollte?
Auf Twitter wurden entsprechende Aufrufe laut. Twitter-Userin Maria Drutska schrieb etwa:
I watched the full unblurred video of the russians beheading our soldier. I hope in a few hours all leaders of Europe and US will watch it too.
— Maria Drutska 🇺🇦 (@maria_drutska) April 11, 2023
I’ll make sure the world and none of you forget this. I will keep reminding all of you who russians really are. If you don’t like me…
Andere wiederum rieten mit Nachdruck davon ab, sich das Video anzusehen. Schliesslich sei bereits bekannt, dass die Russen in der Ukraine Kriegsverbrechen verübten.
Wie geht man nun damit um? Einige Videos, wie diejenigen von Polizeigewalt, können zu Gerechtigkeit führen. Das Teilen von Enthauptungen durch Dschihadisten wiederum bietet «IS»-Terroristen bloss eine Plattform, um ihre Propaganda weiterzuverbreiten.
Doch der Grat zwischen dem Kampf für Gerechtigkeit und dem unnötigen Verbreiten von Gewaltdarstellungen ist oft schmal. Und ob ein Video im Namen der Gerechtigkeit geteilt wird, hat laut Dr. Dion keinen Einfluss darauf, wie traumatisch die Reaktion des Zuschauenden ausfällt.
Professorin Dr. Silverman hat eine klare Meinung zu den Enthauptungsvideos von Dschihadisten:
In den meisten Fällen gewinnt man beim Ansehen solcher Videos also nichts – nichts, ausser einem Schock und grausamen Bildern, die man möglicherweise nie mehr aus dem Gedächtnis löschen kann.
Irgendwie ist es schon pervers. Niemals würde Watson ein Video bringen, das zeigt wie Leben entsteht. Auslöschen geht aber.
Und ich stimme Silverman am Schluss zu. Das tut ich mir nicht an.