Für Emmanuel Macron war der Sonntag kein guter Tag. Der im April wiedergewählte Staatspräsident kann nicht länger mit einer absoluten Mehrheit im Parlament regieren. Sein Mitte-Bündnis Ensemble holte laut dem vorläufigen amtlichen Endergebnis 245 der 577 Sitze in der Nationalversammlung. Jubeln konnten dafür linke und rechte Populisten.
Das gilt in erster Linie für Marine Le Pen. Ihr rechtsradikales Rassemblement National (RN) holte elfmal mehr Sitze als zuvor: 89 statt 8. Es überholte damit die Républicains, die traditionell grösste Partei im rechten Lager. Sie kamen auf 74 Mandate. Die neue Nummer 2 im Parlament aber ist die Linksallianz Nupes von Jean-Luc Mélenchon mit 131 Sitzen.
Damit ist die französische Linke stärker als zuvor. Ihr Anführer sprach von einer «Wahlniederlage des Macronismus». Gemessen an seinen vollmundigen Ansagen aber kann Mélenchon kaum zufrieden sein. Er hatte auf die absolute Mehrheit gezielt, damit Macron ihn zum Premierminister ernennen muss. Davon ist Nupes weit entfernt.
Das Regieren dürfte für Emmanuel Macron und seine im Mai ernannten Regierungschefin Élisabeth Borne – sofern sie bleiben darf – schwierig werden. In Frankreich ist man an klare Verhältnisse gewöhnt. Koalitionen sind unüblich, besonders über ideologische Gräben hinweg. Macron aber braucht für seine Ziele Verbündete im Parlament.
Bislang haben die übrigen Parteien und Bündnisse eine Zusammenarbeit kategorisch ausgeschlossen. Das kann Taktik sein im Hinblick auf die anstehenden Sondierungen. Macrons Regierung kann auch auf wechselnde Allianzen spekulieren, etwa falls sich Sozialisten und Grüne nach dem durchzogenen Ergebnis von Nupes von Mélenchon abwenden sollten.
Bereits wird im Macron-Lager über Neuwahlen spekuliert, doch die sind laut Verfassung frühestens in einem Jahr möglich. Frankreich droht eine längere Phase der Unsicherheit und Instabilität, und das in einer Zeit grosser Herausforderungen durch den Ukraine-Krieg, den drohenden Kaufkraftverlust und die noch nicht bewältigte Corona-Pandemie.
Dies verstärkt die Politikverdrossenheit, die in Frankreich ohnehin seit Jahren zunimmt. Das stärkste Indiz ist die Wahlbeteiligung. Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten nahmen am Sonntag an der zweiten Runde der Parlamentswahl teil. Aber auch die Erfolge der linken und rechten Populisten verdeutlichen die Malaise in der einstigen Grande Nation.
Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon mögen auf Distanz zueinander bedacht sein (das gilt besonders für jenen Linksaussen). Aber sie haben auch einiges gemeinsam, etwa die Abneigung gegen die Europäische Union, die sie im Wahlkampf aus taktischen Gründen abschwächten. Und vor dem Ukraine-Krieg hatten sie grosse Sympathie für Wladimir Putin.
Damit sind sie Symptome eines Trumpismus, der sich in Europa zunehmend ausbreitet und gezielt die Befindlichkeit jener bedient, die sich «abgehängt» und von der Politik nicht mehr ernst genommen fühlen. Man findet sie in der französischen Provinz genauso wie in der Banlieue. Ein «abgehobener» Präsident wie Macron verstärkt diese Ressentiments.
Neu sind solche trumpistischen Strömungen in Europa nicht, im Gegenteil. Selbst die Schweiz ist davon nicht verschont. Sie nahm sogar eine Vorreiterrolle ein. Heute sind populistische Parteien und Persönlichkeiten in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Auch der britische Premier Boris Johnson ist eine Art Trump-Klon mit mehr Humor und weniger Wut.
Der Brexit war eine prägnante Manifestation des europäischen Trumpismus. Wenn aber selbst in Frankreich, einem «Motor» des europäischen Prozesses, die Populisten im linken und rechten Lager eine Führungsrolle beanspruchen, droht dem Kontinent Ungemach, der nach der Invasion in der Ukraine geeint wirkte wie vielleicht nie zuvor.
Und «Besserung» ist nicht in Sicht. Der Krieg, die Pandemie und die damit verbundenen «Kollateralschäden» könnten Menschen mit tieferen Einkommen hart treffen. So warnen Experten, dass hohe Energiepreise für längere Zeit die Regel werden dürften. Es wäre ein perfekter Nährboden für einen weiteren Vormarsch des Trumpismus.
Deshalb ist auch das drohende Vakuum in Frankreich nach einer Parlamentswahl ohne klare Mehrheiten gefährlich. Optimisten sehen darin eine Chance für eine politische Kultur, die wie anderswo auf Kompromissen basiert. Allzu grosse Hoffnungen darf man sich aber nicht machen. Für Politexperten stellt sich sogar die Frage nach einem Rücktritt von Macron.
Davon scheint es eher wieder weniger zu gebenen…
Bonne nuit la France!