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Wahl in Frankreich: Der Trumpismus ist auf dem Vormarsch

epa10022911 A poster of French President Emmanuel Macron displayed as journalists and supporters attends an electoral party for the results of the second round of the French legislatives elections, at ...
Lange Gesichter und keine Feierlaune am Sonntag im Hauptquartier von Ensemble.Bild: keystone
Analyse

Der Trumpismus ist in Europa auf dem Vormarsch

Linke und rechte Populisten jubeln nach der Parlamentswahl in Frankreich. Sie profitieren vom Verdruss über das politische System. Das könnte sich auf ganz Europa auswirken.
20.06.2022, 16:2220.06.2022, 16:59
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Für Emmanuel Macron war der Sonntag kein guter Tag. Der im April wiedergewählte Staatspräsident kann nicht länger mit einer absoluten Mehrheit im Parlament regieren. Sein Mitte-Bündnis Ensemble holte laut dem vorläufigen amtlichen Endergebnis 245 der 577 Sitze in der Nationalversammlung. Jubeln konnten dafür linke und rechte Populisten.

Das gilt in erster Linie für Marine Le Pen. Ihr rechtsradikales Rassemblement National (RN) holte elfmal mehr Sitze als zuvor: 89 statt 8. Es überholte damit die Républicains, die traditionell grösste Partei im rechten Lager. Sie kamen auf 74 Mandate. Die neue Nummer 2 im Parlament aber ist die Linksallianz Nupes von Jean-Luc Mélenchon mit 131 Sitzen.

French far-right leader Marine Le Pen arrives to give a press conference in Pont-sur-Yonne, eastern France, Tuesday, June 14, 2022. Emmanuel Macron saw off the far right's Marine Le Pen in April& ...
Marine Le Pen ist die neue Nummer 1 im rechten Lager.Bild: keystone

Damit ist die französische Linke stärker als zuvor. Ihr Anführer sprach von einer «Wahlniederlage des Macronismus». Gemessen an seinen vollmundigen Ansagen aber kann Mélenchon kaum zufrieden sein. Er hatte auf die absolute Mehrheit gezielt, damit Macron ihn zum Premierminister ernennen muss. Davon ist Nupes weit entfernt.

Koalitionen sind unüblich

Das Regieren dürfte für Emmanuel Macron und seine im Mai ernannten Regierungschefin Élisabeth Borne – sofern sie bleiben darf – schwierig werden. In Frankreich ist man an klare Verhältnisse gewöhnt. Koalitionen sind unüblich, besonders über ideologische Gräben hinweg. Macron aber braucht für seine Ziele Verbündete im Parlament.

Bislang haben die übrigen Parteien und Bündnisse eine Zusammenarbeit kategorisch ausgeschlossen. Das kann Taktik sein im Hinblick auf die anstehenden Sondierungen. Macrons Regierung kann auch auf wechselnde Allianzen spekulieren, etwa falls sich Sozialisten und Grüne nach dem durchzogenen Ergebnis von Nupes von Mélenchon abwenden sollten.

Unsicherheit und Instabilität

Bereits wird im Macron-Lager über Neuwahlen spekuliert, doch die sind laut Verfassung frühestens in einem Jahr möglich. Frankreich droht eine längere Phase der Unsicherheit und Instabilität, und das in einer Zeit grosser Herausforderungen durch den Ukraine-Krieg, den drohenden Kaufkraftverlust und die noch nicht bewältigte Corona-Pandemie.

Hard-left leader Jean-Luc Melenchon delivers his speech in his election night headquarters, Sunday, June 19, 2022 in Paris. French President Emmanuel Macron's alliance got the most seats in the f ...
Jean-Luc Mélenchon gab sich als Sieger, die angepeilte absolute Mehrheit aber verpasste er klar.Bild: keystone

Dies verstärkt die Politikverdrossenheit, die in Frankreich ohnehin seit Jahren zunimmt. Das stärkste Indiz ist die Wahlbeteiligung. Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten nahmen am Sonntag an der zweiten Runde der Parlamentswahl teil. Aber auch die Erfolge der linken und rechten Populisten verdeutlichen die Malaise in der einstigen Grande Nation.

Sympathie für Putin

Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon mögen auf Distanz zueinander bedacht sein (das gilt besonders für jenen Linksaussen). Aber sie haben auch einiges gemeinsam, etwa die Abneigung gegen die Europäische Union, die sie im Wahlkampf aus taktischen Gründen abschwächten. Und vor dem Ukraine-Krieg hatten sie grosse Sympathie für Wladimir Putin.

Damit sind sie Symptome eines Trumpismus, der sich in Europa zunehmend ausbreitet und gezielt die Befindlichkeit jener bedient, die sich «abgehängt» und von der Politik nicht mehr ernst genommen fühlen. Man findet sie in der französischen Provinz genauso wie in der Banlieue. Ein «abgehobener» Präsident wie Macron verstärkt diese Ressentiments.

Populisten auf dem Vormarsch

Neu sind solche trumpistischen Strömungen in Europa nicht, im Gegenteil. Selbst die Schweiz ist davon nicht verschont. Sie nahm sogar eine Vorreiterrolle ein. Heute sind populistische Parteien und Persönlichkeiten in vielen Ländern auf dem Vormarsch. Auch der britische Premier Boris Johnson ist eine Art Trump-Klon mit mehr Humor und weniger Wut.

Der Brexit war eine prägnante Manifestation des europäischen Trumpismus. Wenn aber selbst in Frankreich, einem «Motor» des europäischen Prozesses, die Populisten im linken und rechten Lager eine Führungsrolle beanspruchen, droht dem Kontinent Ungemach, der nach der Invasion in der Ukraine geeint wirkte wie vielleicht nie zuvor.

Besserung ist nicht in Sicht

Und «Besserung» ist nicht in Sicht. Der Krieg, die Pandemie und die damit verbundenen «Kollateralschäden» könnten Menschen mit tieferen Einkommen hart treffen. So warnen Experten, dass hohe Energiepreise für längere Zeit die Regel werden dürften. Es wäre ein perfekter Nährboden für einen weiteren Vormarsch des Trumpismus.

Deshalb ist auch das drohende Vakuum in Frankreich nach einer Parlamentswahl ohne klare Mehrheiten gefährlich. Optimisten sehen darin eine Chance für eine politische Kultur, die wie anderswo auf Kompromissen basiert. Allzu grosse Hoffnungen darf man sich aber nicht machen. Für Politexperten stellt sich sogar die Frage nach einem Rücktritt von Macron.

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quelle: keystone / ludovic marin
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162 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Amadeus
20.06.2022 17:09registriert September 2015
Was hier als Trumpismus beschrieben wird, ist einfach Populismus und exisitiert schon lange. Auch der Aufstieg der Populisten wurde bereits mehrfach erklärt und beschrieben.
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Rethinking
20.06.2022 16:39registriert Oktober 2018
„Leider“ benötigt eine reife Demokratie mündige Bürger…

Davon scheint es eher wieder weniger zu gebenen…
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LURCH
20.06.2022 18:01registriert November 2019
Die bildung einer Fraktion von NUPES ist nach ersten Sondierungen gescheitert, also wird Rassemblement National die zweitstärkste Fraktion im Parlament.
Bonne nuit la France!
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