Die Endlosschlaufe namens Brexit dreht sich weiter. Am Donnerstagabend überraschte Premierminister Boris Johnson wieder einmal Freund und Feind. Er wolle Neuwahlen am 12. Dezember, kündigte er in einem BBC-Interview an. Die Abstimmung im Unterhaus soll am Montag stattfinden. Der EU-Austritt am 31. Oktober ist damit endgültig vom Tisch.
Am Dienstag hatte Johnson den ersten grossen Erfolg seit seinem Amtsantritt im Juli erzielt: Das Unterhaus trat auf das Gesetz zur Umsetzung seines mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrags ein. Woran seine Vorgängerin Theresa May dreimal gescheitert war, schaffte Johnson im ersten Anlauf.
Schon beim nächsten Schritt aber setzte es erneut eine Pleite ab: Das Parlament weigerte sich, die Detailberatung des Brexit-Gesetzes im Eiltempo durchzupeitschen. Johnson legte darauf die Beratung auf Eis und spielte den Ball der Europäischen Union zu. Ein No-Deal-Brexit ist weiterhin möglich, beide Seiten bereiten sich darauf vor, aber im Vordergrund stehen zwei andere Szenarien.
EU-Ratspräsident Donald Tusk hat den verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten eine Verlängerung der Austrittsfrist um drei Monate bis zum 31. Januar 2020 vorgeschlagen. Das entspricht dem Anfang September vom britischen Parlament beschlossenen Gesetz. Frankreich ist skeptisch und plädiert für eine kürzere Frist, damit im leidigen Brexit-Theater möglichst rasch der Vorhang fällt.
Tusk schlägt vor, dass der Austritt vorgezogen werden kann, wenn das Königreich und die EU-Staaten den Vertrag ratifiziert haben. Die Verlängerung soll in einem schriftlichen Verfahren genehmigt werden, damit sich die Staats- und Regierungschefs nicht zu einem weiteren Brexit-Sondergipfel (dem wievielten eigentlich?) treffen müssen. Ein Entscheid wird frühestens am Freitag erwartet.
Der konservative Premier wollte eigentlich keinen Aufschub, scheint sich aber damit abgefunden zu haben. Er kündigte am Dienstag für diesen Fall Neuwahlen an, doch dagegen gab es Widerstand im Kabinett. Die Kritiker um Nordirland-Minister Julian Smith glauben, mit den 30 Stimmen Vorsprung vom Dienstag lasse sich das Brexit-Gesetz im Parlament zu Ende beraten.
Die Brexit-Hardliner sind skeptischer. Sie fürchten gemäss dem «Guardian», dass die 19 Labour-Abgeordneten, die am Dienstag zugestimmt hatten, ihre Unterstützung zurückziehen, wenn von ihnen geforderte Änderungsanträge – etwa ein Verbleib in der EU-Zollunion – nicht durchkommen. Auch neun Tory-Rebellen, die aus der Fraktion geworfen wurden, hatten Ja gesagt.
Johnson Büro wies Berichte über einen Zwist in der Regierung zurück. Allerdings sollen sich führende Köpfe von Konservativen und Labour getroffen und über einen möglichen Zeitplan für das Gesetz beraten haben. Boris Johnson selbst hatte am Mittwoch eine Unterredung mit Labour-Chef Jeremy Corbyn, ohne dass es zwischen den beiden Kontrahenten zu einer Einigung kam. Nun setzt er doch auf die Karte Neuwahlen.
Für den angestrebten Termin am 12. Dezember braucht der Premierminister eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die Voraussetzungen sind günstig. Die Regierungschefs von Schottland und Wales sprachen sich am Mittwoch an einer Medienkonferenz für Neuwahlen aus, und die Labour-Partei kann sich nach ihren diversen Kapriolen kaum noch einmal verweigern.
Heikel wäre der Zeitpunkt. Eine Unterhauswahl vor Weihnachten ist nicht gerade populär, vor allem wegen der Kälte. Viele Wahllokale werden zudem in Schulräumen eingerichtet, die im Advent durch Weihnachtsanlässe belegt sind. Müssten sie wegen den Wahlen abgesagt werden, würde Johnson der Volkszorn treffen. Mit dem angestrebten Termin will er dieses Risiko wohl vermeiden.
Für den bislang glücklosen Boris Johnson sieht es so oder so gut aus. Falls das Parlament am Montag den Weg für Neuwahlen freimacht, wird er seinen EU-Deal als Trumpf ausspielen. Er kann damit die Brexit-Partei von Hardliner Nigel Farage in Schach halten nach dem Motto «My way or no way»: Entweder ich gewinne und bringe das Austrittsgesetz über die Bühne, oder es gibt gar keinen Brexit.
Falls ihm das Unterhaus erneut die Gefolgschaft verweigert, wird er nach Ansicht britischer Medien wohl versuchen, das Brexit-Gesetz zu Ende beraten zu lassen. Seine Chancen sind nach dem Erfolg von Dienstag intakt. Als Drohkulisse bleibt ihm die Warnung vor dem No-Deal-Brexit. Die Neuwahlen dürften in diesem Fall nach dem vollzogenen Austritt aus der EU stattfinden.
Im Brexit-Prozess galt bislang die Devise, dass nichts unmöglich ist und morgen alles anders sein kann. Johnsons grösster Trumpf ist deshalb, dass viele Politiker und ein beträchtlicher Teil des britischen Volks die Schnauze voll haben und den Brexit endlich abhaken wollen.