Zuerst glaubte der Basler Musikmanager Christoph Müller an einen Scherz. Doch mit China ist nicht zu spassen, für ein Konzert im Juli mit dem Kammerorchester Basel in Schanghai musste das Programm der Zensurbehörde vorgelegt werden.
Aufgeführt wird nicht etwa eine moderne Operninszenierung, bei der gewagte Bilder oder die Handlung das Publikum irritieren könnten, sondern auf dem Programm stehen rein instrumentale Werke: je eine Sinfonie von Ludwig von Beethoven und Felix Mendelssohn sowie ein neues Werk der Schweizer Komponistin Helena Winkelman, ihre Simmelibärg-Suite für Orchester und Akkordeon. Gefährliche Klänge, da und dort sogar eine Dissonanz, aber den Chinesen zuzutrauen.
Noch bunter wurde es Müller, dem künstlerischen Delegierten des Kammerorchesters, dem Marcel Falk als Direktor vorsteht, bei der Planung einer Tournee für 2027: Dann nämlich will man in China Ludwig van Beethovens «Chorfantasie» aufführen, ein 20-minütiges Werk für Klavier und Orchester, an dessen Ende ein Chor vier Minuten lang singt. In der ersten Strophe heisst es «Schmeichelnd hold und lieblich klingen / unsers Lebens Harmonien, / und dem Schönheitssinn entschwingen / Blumen sich, die ewig blüh'n».
Unverfänglich, könnte man denken, doch die Agentur in Singapur fragte bei Müller genau nach, um was für einen Text es sich da handle. Man vermutete bereits einen biblischen, worauf die Alarmglocken läuteten. Der Agent teilte Müller mit, dass es dann Probleme mit der Zensur in China geben werde. Müller beschwichtigte, legte den simplen Text im Original vor. Nun wird sich zeigen, wie die Zensurbehörde in China reagiert.
Doch Müller zeigt sich besorgt: «Für das Orchester und mich ist es bereits skurril, ja erschreckend, dass man ein rein sinfonisches Programm der Zensurbehörde vorlegen musste. Aber dass man nun auch noch den Text der Chorfantasie speziell untersuchen lassen muss, irritiert mich.» KOB-Direktor Falk sagt, dass mit der kommenden Tournee nun ja alles in Ordnung sei, trotzdem bleibe ein Befremden, dass ein sinfonisches Programm von was für einer Behörde auch immer untersucht werde.
Die Agentur fragte Müller zudem, ob man den Text nötigenfalls abändern könne. Doch Müller weiss genau, dass sein Dirigent Giovanni Antonini nie auch nur eine kleine Änderung zulassen würde. «Zurecht», sagt Müller, «man muss voll und ganz hinter einem künstlerischen Projekt stehen; würde die Hälfte rausgestrichen, müsste sich ein Orchester ernsthaft überlegen, ob man überhaupt auftrete. Würde gar ein Werk verboten, gäbe das eine grosse Grundsatzdiskussion.»
Offenbar hat China die Zensurschrauben angezogen. Dirigent Paavo Järvi, der oft in China dirigierte, sagt: «Ich erlebte bis heute noch nie irgendeinen Fall von Zensur in China.» Und auch Ilona Schmiel, Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich, musste die Werke vor Corona nie einer Behörde vorlegen; nie gab es Probleme. Michael Haefliger, Intendant des Lucerne Festival, sagt dasselbe und fügt an, dass auch Beethovens 9. Sinfonie in China viele Male aufgeführt worden sei. Somit sollte eigentlich auch der Weg für die Chorfantasie frei sein.
Im Juli 2024 wird das Kammerorchester Basel jedenfalls trotz Zensur-Behörde in Schanghai spielen, zu viel Prestige ist mit dieser Einladung verbunden. Vor Corona herrschte ein regelrechter China-Run, alles wollte diese boomende Klassikwelt sehen: die neuen Säle, das neue Publikum. Und so gaben sich in Schanghai Europas Top-Orchester die Klinken der Konzertsäle in die Hand. Man geht nicht mit Gewinn nach Hause, aber die Kosten sind gedeckt. Im Fall des Kammerorchesters Basel ist es so, dass kein Basler Steuergeld für die Tournee verwendet wird. Von der Pro Helvetia hingegen gibt es einen Batzen, da man Helena Winkelmans neues Werk nach Asien bringt.
Maurice Steger, Schweizer Blockflötist und Dirigent, kennt das fernasiatische Musikleben bestens, zumal er eine Gastprofessur in Taiwan innehat. Er ist vorsichtiger geworden, wenn es um biblische Anlehnungen geht: Spielt er in China eine instrumentale Bearbeitung einer Kantate von Johann Sebastian Bach, gibt er im Programm nicht mehr an, um welche es sich handelt, da dort dann ja unweigerlich ein Bibelzitat stehen würde.
Doch so einfach ist es nicht, denn offenbar hat man in China viel Fachwissen. Gewisse Konzerte J. S. Bachs beruhen nämlich auf Kantaten, weswegen Steger den Behörden auch schon mitteilen musste, dass ein Bach-Konzert nicht auf einer Kantate beruht. Im Programmheft gäbe es nie Erwähnungen, dass die Werke entfernt im christlichen Zusammenhang stehen würden.
Als Steger von Barockkomponist Francesco Turrini eine Sonate spielte, die den Beinamen «Il Corisino» hat, riet ihm seine Übersetzerin und Beraterin, den Titel wegzulassen und einfach «Sonata» ins Programm zu schreiben. Warum, wusste der Zürcher selbst nicht, zumal man nicht genau weiss, was dieses «Corisino», dieses Herzchen, bedeute. Aber eben: Es könnte ja eine versteckte Botschaft sein.
Ob die Chinesen sie auch in Beethovens Chorfantasie finden? Sollte der Text tatsächlich Probleme machen, könnten die Basler auch eine Fassung vorlegen, die im kommunistischen China willkommen sein müsste. Der in der DDR mit dem Lenin- (1952) und dem Stalinpreis (1953) ausgezeichnete Dichter Johannes R. Becher wurde nämlich 1951 vom Zentralrat der DDR-Jugendorganisation beauftragt, anlässlich der Weltfestspiele der Jugend für die Chorfantasie einen neuen Text zu verfassen. Entstanden ist eine Friedensode ohne rote Färbungen. Der Beginn gibt den Geist der neuen Verse vor: «Seid gegrüsst, lasst euch empfangen / von des Friedens Melodien! / Unser Herz ist noch voll Bangen, / Wolken dicht am Himmel ziehn.»
Man zweifelt allerdings, ob die Zensurbehörde dahinter nicht auch versteckte Botschaften finden könnte, heisst es da doch auch: «Wo sich Völker frei entfalten / und des Friedens Stimme spricht». Ein Teufelskreis. (aargauerzeitung.ch)