Herr Yu will zum Arzt, hat leichtes Fieber. «Ich habe nichts zu essen. Ich fühle mich schrecklich», sagt der ältere Herr in einem dringlichen Telefonat mit seinem Nachbarschaftskomitee in Shanghai. Seit Wochen unterliegen die meisten der 26 Millionen Einwohner der Hafenmetropole einem harten und vielfach chaotischen Lockdown. Er habe auch keine Medikamente mehr, klagt Herr Yu. Sein Antrag, medizinisch behandelt oder zur Computertomographie gelassen zu werden, bleibe seit Tagen von höherer Stelle unbeantwortet. «Ist das in Ordnung für die, wenn ich sterbe?»
Der Funktionär am anderen Ende der Leitung ist überfordert: «Wir sind machtlos und können nichts daran ändern», sagt er und beklagt sich über die Verantwortlichen. «Die tun nichts für die Alten, die Schwangeren und die Senioren, die gestorben sind. Selbst um die Mülltonnen kümmern sie sich nicht.» Ein Mitschnitt des Gesprächs, das offenbar von einem Familienmitglied aufgezeichnet wurde, geht online, empört Millionen, bis die Zensur es streicht.
«Ich kann nicht glauben, was aus unserem Land geworden ist», sagt Herr Yu am Ende resigniert. Der Vertreter des Nachbarschaftskomitees stimmt ihm zu: «Ich weiss auch nicht, warum Shanghai sich so verändert hat.» Das Gespräch trifft einen Nerv, und selbst Chinas Staatsmedien sprechen von einer «traurigen Geschichte», beteuern aber, Herrn Yu sei schliesslich zur Behandlung ins Krankenhaus gebracht worden.
Zwar hat die Stadt bisher noch keine Covid-Toten gemeldet, aber im Internet kursieren verzweifelte Schilderungen von Angehörigen, dass Alte oder chronisch Kranke keine medizinische Behandlung bekommen hätten und deswegen gestorben seien.
Ausgerechnet das wirtschaftliche und finanzielle Zentrum, der Stolz Chinas, schlittert ins Chaos. Die reichste Stadt steht im Mittelpunkt der grössten Corona-Welle, die das bevölkerungsreichste Land der Erde seit Ausbruch der Pandemie vor zwei Jahren erlebt hat.
Auch in den Millionenmetropolen Changchun und Shenyang, der Provinz Jilin in Nordostchina sowie in Wohnblocks anderer Städte wie selbst Peking gelten Lockdowns. Viele Millionen Menschen sind landesweit betroffen.
Während der Rest der Welt versucht, «mit dem Virus zu leben», kämpfen Chinas Behörden mit alten Waffen gegen einen neuen Feind: Omikron BA.2. Die sich rasant verbreitende Variante stellt Chinas Null-Covid-Strategie in Frage. Rigorose Methoden wie Ausgangssperren, Massentests und Quarantäne verlieren an Wirkung - konnten das Virus in Shanghai bisher nicht stoppen. Die Mehrzahl der landesweit 30 000 neuen Infektionen pro Tag wird in der Hafenstadt entdeckt.
«Der gegenwärtige Lockdown und sein logistischer Alptraum ist der letzte Sargnagel für die Attraktivität Shanghais im Rest der Welt», sagt die Vizepräsidentin der Europäischen Handelskammer in China, Bettina Schön-Behanzin, die schon lange in der Hafenstadt lebt. «Es ist echt nicht typisch für Shanghai, dass es tatsächlich einen Mangel an Vorbereitung gab, bevor diese Vorbeugungs- und Kontrollmassnahmen umgesetzt werden.»
Die Lieferung von Lebensmitteln funktioniert schlecht. Bewohner, die nicht genug Vorräte haben, rufen laut aus Fenstern: «Wir haben Hunger.» Behördenvertreter räumen Probleme bei der Versorgung «auf den letzten hundert Metern» ein. «Wir sind zu viert in meiner Familie, und wenn wir uns nur auf die Gemüse-Verteilung der Regierung stützen müssten, hätten wir definitiv nicht genug», sagt Frau Ye, eine 26-jährige Finanzexpertin im Stadtteil Xuhui, die seit einem Monat in ihrem Apartment feststeckt.
Ähnlich eine Frau im Stadtteil Pudong: «Ich bin jetzt 30 Tage zuhause isoliert und habe endlich mal Gemüse von den Behörden bekommen.» Vorher habe sie nur einmal Reis, Mehl und Öl erhalten. Sie lebe von Vorräten und habe Glück gehabt, im Internet mal was zu erwischen, was Millionen Shanghaiern schwer fällt. «Normalerweise ist Shanghai ziemlich gut, aber die Regierung tut viel zu wenig», sagt die junge Frau. «Ich und meine Freunde wollen Shanghai verlassen.»
Es geht die Angst um, in Quarantäne gebracht zu werden, wenn einer der ständigen Tests positiv ausfallen sollte. Jeder Infizierte muss in China in zentrale Lager, die für Zehntausende auch in Messehallen eingerichtet wurden. Vielfach gibt es keine Duschen. Es gibt Klagen über dreckige Toiletten. «Es sind Super-Spreader-Abschottungsorte, und es ist ganz leicht, Kreuzinfektionen zu bekommen», warnt die EU-Kammervizevorsitzende Schön-Behanzin.
Die Nerven liegen blank. Staatsmedien räumen ein, dass «Zweifel, Angst und Müdigkeit spürbar» seien. Bewohner beschimpfen weiss vermummte Pandemie-Ordner oder Polizisten, die auch handgreiflich gegen protestierende Bewohner vorgehen, wie Videos im Internet zeigen. Mit Drohnen werden Wohngebiete aus der Luft überwacht. Hohe Absperrungen und Bauzäune riegeln Häuser hermetisch ab. Roboterhunde mit plärrendem Megafon aufgeschnallt laufen durch leeren Strassen: «Tragt Maske, wascht häufig Hände, und messt Fieber!» So wird es wohl noch Wochen gehen. Erst Mitte Juni soll der Ausbruch in Shanghai wirklich unter Kontrolle sein, sagen chinesische Experten. (dpa) (aargauerzeitung.ch)
So brutale Einschränkungen passen zwar hervorragend in die chinesische Diktatur, sind aber nicht nachhaltig. Sobald sich die Leute wieder bewegen können, geht es wieder von vorne los, weil zu wenige an das Virus gewöhnt sind.