Das Neujahrsfest ist der wichtigste Feiertag in China. Es wird nach dem Mondkalender bestimmt und findet jedes Jahr an einem Datum zwischen dem 21. Januar und dem 21. Februar statt. 2021 ist es der 12. Februar, dann beginnt das Jahr des Büffels. Traditionell beginnen die Feierlichkeiten zwei Wochen zuvor, sie sind nun also in vollem Gang.
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Oder sie wären es, denn dieses Jahr ist einiges anders als sonst. Für gewöhnlich gibt es am Neujahrsfest grosse Familientreffen mit Essgelagen, Partys und Feuerwerk. Wichtig ist das besonders für die rund 300 Millionen «Wanderarbeiter». Es ist häufig die einzige Gelegenheit im Jahr, ihre Angehörigen und teilweise sogar ihre Kinder zu besuchen.
Dafür opfern diese oft schlecht bezahlten Arbeitsmigranten ihre wenigen Ferientage. Schon letztes Jahr aber fiel das Wiedersehen für viele ins Wasser. Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Wuhan schränkte die Regierung die Reisetätigkeit an Neujahr drastisch ein. Nun versucht sie erneut, ihren «Untertanen» das Reisen auszureden.
China rühmte sich lange seiner Erfolge bei der Bekämpfung des Coronavirus. Nach den teilweise drastischen Lockdowns im Frühjahr kehrte das Alltagsleben weitgehend zur Normalität zurück. Auch die Wirtschaft erholte sich rasch, sie wuchs letztes Jahr nach offiziellen Angaben um 2,3 Prozent, so wenig wie seit Jahrzehnten nicht, aber immerhin.
Damit versuchte die Kommunistische Partei davon abzulenken, dass sie das Virus mit den Vertuschungen in Wuhan auf die Welt losgelassen hat. Gleichzeitig verkaufte sie ihre Erfolge als Beweis für die Überlegenheit ihres autokratischen Systems gegenüber den westlichen Demokratien, die von der zweiten Corona-Welle überrollt wurden.
Nun aber fürchtet Peking selber die zweite Welle. Seit Jahresbeginn häufen sich Berichte über lokale Seuchenherde. Sie sind minim im Vergleich mit den hunderten bis tausenden Fällen, die in Europa und den USA täglich gemeldet werden. Die Chinesen aber wollen kein Risiko eingehen. Sie greifen rigoros durch mit Lockdowns und Massentests.
Für Unruhe sorgten besonders die Ausbrüche in der an Peking grenzenden Provinz Hebei. Die Elf-Millionen-Metropole Shijiazhuang, eine jener chinesischen Riesenstädte, die im Rest der Welt kaum jemand kennt, wurde am 6. Januar abgeriegelt. In der Hauptstadt selbst wurden im Januar erste Infektionen mit der britischen Variante B.1.1.7 registriert.
Der renommierte Epidemiologe Zhong Nanshan sprach am letzten Sonntag von einer «neuen Herausforderung». Die Mutationen müssten genau verfolgt werden. Das Neujahrsfest, an dem hunderte Millionen Menschen kreuz und quer durchs Land reisen, um mit Freunden und Familie zu feiern, bietet dafür denkbar ungünstige Voraussetzungen.
Vor einem eigentlichen Reiseverbot schreckt das Regime von Staatschef Xi Jinping zurück. Es wäre ein Eingeständnis, dass man die Lage nicht im Griff hat, und ein Gesichtsverlust. Aber die Behörden rufen zum freiwilligen Verzicht auf und bemühen sich, die Menschen mit teilweise harten Vorschriften vom Besuch bei ihren Verwandten abzuhalten.
Ohne einen negativen, höchstens eine Woche alten Corona-Test kann man keinen Zug und kein Flugzeug besteigen. Manche Regionen und Städte gehen weiter und verlangen eine 14-tägige Hotelquarantäne ohne Kontakt zur Aussenwelt. Das läuft mit Hin- und Rückreise auf bis zu vier Wochen Isolation hinaus. Viele Wanderarbeiter können sich das nicht leisten.
Die Folgen sind brutal. Pang Qinggao, ein 31-jähriger Früchtehändler in Tangshan im Norden des Landes, hat seine siebenjährige Tochter seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen. Und nun kann er erneut nicht in seine 1500 Kilometer entfernte Heimat reisen. «Ich vermisse meine Tochter sehr, aber ich kann nichts tun», sagte Pang der «New York Times».
Viele laden ihren Frust in den sozialen Medien ab, sofern es die Zensur zulässt. Um die erzürnten, am Arbeitsort festsitzenden Wanderarbeiter zu besänftigen, offerieren ihnen die Behörden gemäss der «New York Times» Geschenke, Einkaufsgutscheine, Geld oder eine Vorzugsbehandlung bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen.
Von «Normalität» kann also auch in der Volksrepublik China keine Rede sein. Und auch beim Impfen gehört man nicht zur Spitzengruppe. Das Ziel der Regierung, bis zum Neujahrsfest 50 Millionen Menschen durchzuimpfen, dürfte nach Ansicht von Beobachtern verfehlt werden. Auch gibt es Zweifel an der Wirksamkeit der im Land entwickelten Impfstoffe.
Das Pekinger Forschungs- und Beratungsunternehmen Trivium geht gemäss dem «Wall Street Journal» davon aus, dass China bis Ende Jahr 850 Millionen Impfdosen verabreichen kann. Auch bei den chinesischen Vakzinen sind zwei pro Person notwendig, weshalb eine Herdenimmunität erst weit im nächsten Jahr erreicht werden könnte.
Es sind unschöne Aussichten für das Neujahr 2022. Auch die strikten Einreise- und Quarantänevorschriften werden so schnell nicht verschwinden, weshalb chinesische Touristen bei uns in diesem und im nächsten Jahr wohl ausbleiben werden.