Ein Jahr nach Beginn der Proteste in Belarus haben laut Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja viele ihrer Landsleute weltweit Angst vor den autoritären Behörden von Machthaber Alexander Lukaschenko. «Im Moment kann sich niemand sicher fühlen, auch ich nicht», sagte Tichanowskaja der Deutschen Presse-Agentur. «Ich weiss nicht, wie lang der Arm des Regimes reicht.» Die Bürgerrechtlerin verwies unter anderem auf den Fall des Exil-Belarussen Witali Schischow, der kürzlich in der Ukraine tot aufgefunden wurde.
Auch der Fall der belarussischen Olympia-Sportlerin Kristina Timanowskaja habe gezeigt, dass jeder Lukaschenkos «Repressionsapparat» zum Opfer fallen könne, betonte Tichanowskaja. Die Leichtathletin, die eigener Darstellung zufolge wegen Kritik an belarussischen Sportfunktionären von den Olympischen Spielen in Tokio entführt werden sollte, habe sich schliesslich nicht einmal an Demonstrationen beteiligt. «Jede falsche Bewegung oder offene Äusserung - auch wenn sie nicht politisch ist - kann zu einer Festnahme und einer Gefängnisstrafe führen», sagte die 38-Jährige.
Tichanowskaja war vor einem Jahr als Oppositionsführerin im Trio mit Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa international bekannt geworden. Die frühere Englischlehrerin war als Präsidentschaftskandidatin anstelle ihres inhaftierten Ehemanns Sergej Tichanowski angetreten. Nach der weithin als gefälscht geltenden Abstimmung am 9. August 2020 floh sie ins EU-Land Litauen. Auch Zepkalo flüchtete. Kolesnikowa wurde verhaftet und steht derzeit in Minsk vor Gericht. Ihr drohen bis zu zwölf Jahre Haft.
Der 66 Jahre alte Langzeitmachthaber Lukaschenko hatte sich mit 80.1 Prozent der Stimmen im Amt bestätigen lassen. Monatelange friedliche Massenproteste nach der Wahl liess er teils brutal niederschlagen. Die EU erkennt ihn nicht mehr als Präsidenten an. Bei den Demonstrationen gab es mehrere Tote, Hunderte Verletzte und Tausende Festnahmen.
Tichanowskaja kämpft aus dem Exil heraus weiter für die belarussische Demokratiebewegung. Bei einer Amerika-Reise wurde sie kürzlich auch von US-Präsident Joe Biden empfangen. Solche Treffen mit Staats- und Regierungschefs seien sehr wichtig, damit die Ex-Sowjetrepublik nicht von der Tagesordnung verschwinde und verloren gegangene diplomatische Beziehungen wieder aufgebaut würden, meinte Tichanowskaja. Sie unterstrich einmal mehr die Bedeutung westlicher Sanktionen gegen Belarus. Die Strafmassnahmen seien aber nach wie vor lückenhaft, mahnte sie.
«Wir glauben, dass wirtschaftlicher und politischer Druck dazu beitragen kann, dass das Regime sein Verhalten ändert und es zwingt, einen Dialog mit den Belarussen aufzunehmen, politische Gefangene freizulassen und sich an den Verhandlungstisch zu setzen», sagte sie. Zudem zeigten auch die vielen illegalen Grenzübertritte von Migranten von Belarus in die EU, dass Lukaschenkos Machtapparat «eine Bedrohung auch für Menschen anderer Länder» sei.
Die EU hatte zuletzt umfangreiche Sanktionen unter anderem gegen die für Belarus wichtige Kali- und Düngemittelindustrie verhängt. Auch die USA, Kanada und Grossbritannien beschlossen Strafmassnahmen. Russland hingegen unterstützt Lukaschenko mit Milliardenkrediten.
«Wir waren auf eine solche Brutalität des Regimes nicht vorbereitet», sagte Tichanowskaja mit Blick auf die mittlerweile abgeebbten Proteste in Belarus. Letztendlich offenbarten staatliche Gewalt und Repressionen aber vor allem «die Schwäche des Regimes, aber nicht seine Stärke». Rückblickend zieht die Oppositionsführerin dennoch auch ein hoffnungsvolles Fazit: Die belarussische Zivilgesellschaft sei in den vergangenen zwölf Monaten stärker geworden, die Menschen politischer, betonte sie.
Ob sie selbst manchmal ans Aufgeben denke? Nein. «Es ist sehr schwer», gab Tichanowskaja zu. Doch: «Denjenigen im Gefängnis geht es noch schlechter», sagte sie mit Blick auf die vielen politischen Gefangenen. «Da hast du einfach nicht das Recht aufzuhören.» (sda/dpa)