Es sind keine schönen Bilder, die sich derzeit den Strandwanderern an der französischen Atlantikküste bieten: Seit Wochen schwemmt die Flut Delfinleichen an. Seit Jahresbeginn seien es deren 370, sagt Lamya Essemlali von der Hilfsorganisation Sea Shepherd zu CH Media. «Und die Dunkelziffer liegt wohl fünfmal höher.»
Das traurige Phänomen ist nicht neu, durch die aktuellen Wind- und Strömungsverhältnisse wird es aber sichtbarer. Schuld ist laut Essemlali die industrielle Fischerei. «Wenn wie im Normalfall 200 Fangschiffe unterwegs sind, bilden ihre Netze zusammen genommen kilometerlange Tierfallen.»
Verfängt sich ein Delfin in den Maschen, ist er meist zum Tod verurteilt: Die Meeressäuger müssen alle paar Minuten Luft holen, werden aber von den Netzen daran gehindert, sodass sie kläglich ertrinken.
An der westeuropäischen Atlantikküste zwischen Portugal und Belgien werden die Opfer auf jährlich 4000 bis 10'000 geschätzt. Ein Grossteil stirbt im Golf von Biskaya, den Europäer aus dem Wetterbericht kennen. Weht der Wind aus dem Westen, werden die Delfinleichen an die Küstenstriche um Biarritz, Bordeaux und bis in die Bretagne geschwemmt.
Seit ein paar Wochen finden Surfer und Strandgänger besonders viele Säuger, die aufgeschlitzt oder gar ausgeweidet wurden. Die Wunden stammen nicht von den Netzmaschen, sondern offensichtlich von Menschenhand. Essemlali, Präsidentin von Sea Shepherd France, hat als einzig mögliche Erklärung einen Verdacht: Die toten Delfine würden auf den Industrieschiffen verstümmelt. Dann werden die Kadaver ins Wasser geworfen; sie sinken auf den Meeresboden und zersetzen sich dort.
«Die Industriefischer mit den grossen Netzen wollen auf diese Art vermeiden, dass allzu viele der erstickten Delfine an die Strände geschwemmt werden», glaubt Essemlali. «Damit wird die Bevölkerung weniger auf das Massaker aufmerksam.»
Denn die Fischer geraten unter den wachsenden Druck der Tierschützer. Sea Shepherd mobilisiert seit langem gegen die «nicht selektiven» Fangmethoden, die keinen Unterschied machen zwischen grossen und kleinen Meeresbewohnern. Die Tierschutzorganisation verfrachtet öfters tote Delfine in die Zentren französischer Städte und stellt sie dort aus, um die Einwohner zu sensibilisieren.
Die Behörden nehmen sich des Problems nur langsam an. Das französische Meeresministerium hat die Fischereiflotten aufgefordert, zu Kontrollzwecken Kameras an Bord zu installieren. Doch die Betroffenen beteiligen sich kaum an dieser freiwilligen Aktion. Ein Obligatorium widerstrebt der Regierung in Paris: Sie denkt zuerst an die vielen Arbeitsplätze der Fischer an der 600 Kilometer langen Atlantikküste Frankreichs.
Das französische Amt für Biodiversität will zwar unter anderem mit elektronischen Sonden die Routen der Delfine auskundschaften; akustische Unterwassersignale sollen die empfindlichen Säuger sodann aus den Fangzonen vertreiben. Das ist aber Zukunftsmusik. Der Versuch dauert bis zum Frühling 2025. Das sei eine «blosse Verzögerungstaktik», schätzt Lamys Essemlali. Sea Shepherd verlangt als Sofortmassnahme einen einmonatigen Fischerei-Stopp, um den besonders delfinreichen Jahresbeginn zu überstehen.
«Natürlich müssten die Reedereien entschädigt werden», meinte die Shepherd-Managerin. Mittelfristig verlangt sie «eine komplette Revision der Fangmethoden». Die Netze hätten sich in den letzten Jahren von fünf auf fünfzehn Meter Tiefgang verdreifacht. Eine Reglementierung der Netzhöhe gebe es nicht.
Die Politik beginnt sich nun für das grossflächige Delfinsterben in der Biskaya zu interessieren. Am vergangenen Sonntag haben zwölf Abgeordnete fast aller Parteien der französischen Nationalversammlung einen Appell an die Regierung gerichtet, die Fischerei während eines Monats einzustellen. Sie stützen sich dabei nicht nur auf die Angaben von Sea Shepherd, sondern auch des «Internationalen Rates für Meeresforschung» (ICES).
Sogar dieses nordatlantische Gremium, das der Fischereibranche nahesteht, empfiehlt zum Delfinschutz gelegentliche Fangpausen – drei Monate im Winter, einen Monat im Sommer – an ausgewählten Orten. Essemlali vermisst aber die Umsetzung durch die französischen Behörden: «Solange sie keine Zonen festlegen, kann es auch keine Schutzzeiten geben.» Und keine Rettung für die Delfine.
Bei vielen Projekten konnten mit dauerhaften Schutzzonen sogar die Fangquoten erhöht werden.
Der Überfluss aus diesen Gebieten stabilisiert auch die umliegenden Bestände.
Leider geht es vielen in diesem Gewerbe nur um das schnelle Geld.