Immer mehr stehen die ukrainischen Verteidiger an der Donbas-Front im Osten der Ukraine unter starkem russischem Druck, namentlich bei Pokrowsk. Nun ist es russischen Einheiten nördlich der seit Wochen erbittert umkämpften Stadt gelungen, die ukrainischen Verteidigungslinien an einigen Stellen zu durchbrechen und ins Hinterland der Front einzudringen. Am 9. und 10. August vermochten die Russen, insgesamt rund zehn Kilometer hinter die Frontlinie vorzustossen.
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Ein solcher Vorstoss in kurzer Zeit ist den russischen Invasoren schon lange nicht mehr geglückt; zwar rückt die russische Armee an der Front im Donbas seit Langem vor, jedoch nur sehr langsam und unter fürchterlichen Verlusten. Doch die ukrainischen Stellungen nördlich der Dörfer Nykanoriwka und Nowe Shakhowe waren schwach besetzt – Soldatenmangel wegen Rekrutierungsproblemen und Desertionen machen der ukrainischen Armee schwer zu schaffen. So gelang es russischen Aufklärungstrupps, dort auf Motorrädern und Quads durchzubrechen und zunächst ungehindert vorzustossen. Allerdings waren die russischen Streitkräfte bisher nicht in der Lage, diese Durchbrüche zu halten und auszubauen, wie das Institute for the Study of War (ISW) in seinem aktuellen Lagebericht meldet.
Gemäss diesem Lagebericht infiltrierten die russischen Sabotage- und Aufklärungseinheiten, die ohne mechanisierte Ausrüstung operieren, am 12. August weiterhin die ukrainischen Verteidigungslinien östlich und nordöstlich der nordwestlich von Pokrowsk gelegenen Ortschaft Dobropillja. Das ISW berichtet unter Berufung auf den ukrainischen Generalstab, dass russische Trupps in die drei Dörfer Kutscheriw Jar, Wessele und Rubischne nordöstlich von Dobropillja sowie das östlich davon gelegene Wilne eingedrungen seien. Mehrere kleine Gruppen hätten die ukrainischen Stellungen umgangen und seien in Richtung Zolotyi Kolodyaz vorgerückt.
Die ukrainische Armeeführung reagierte umgehend auf den russischen Durchbruch und schickte zusätzliche Kräfte, darunter Eliteeinheiten und Drohnenangriffstrupps, zur Verstärkung an diesen Frontabschnitt. Einige der russischen Trupps sind gemäss den ukrainischen Angaben bereits aufgerieben worden.
Zwar scheint es sich bei den russischen Vorstössen vorerst lediglich um schnell vorrückende, jedoch eher kleine Trupps ohne mechanisierte Ausrüstung zu handeln – ein konzentrierter, massiver Durchbruch mit Panzern und Artillerie hat offenbar bisher nicht stattgefunden. Die russischen Trupps tasteten mit ihren Angriffen die ukrainischen Verteidigungslinien ab und konnten so Schwachstellen finden, die sie dann trotz hoher Verluste schnell für einen Vorstoss nutzten.
Während die Ukrainer nun versuchen, diese Trupps zu vernichten, versuchen die Russen, die Geländegewinne zu konsolidieren, die Truppen zu verstärken und den in die ukrainische Front getriebenen Keil zu verbreitern. Zu diesem Zweck setzen sie massiven Artilleriebeschuss und Gleitbombenangriffe auf die ukrainischen Stellungen ein und rücken mit mechanisierter Infanterie und Drohneneinheiten nach. Gefährlich ist dies für die Ukrainer besonders deswegen, weil sie in diesem Frontabschnitt ihre zweite und dritte Verteidigungslinie noch nicht fertiggestellt haben.
Damit ist im Donbas – sollten die Russen ihren Vorstoss konsolidieren und weiter ausbauen können – die Stabilität der gesamten ukrainischen Front südlich von Kramatorsk in Gefahr. Die Lage der Verteidiger in der nahezu umzingelten Stadt Pokrowsk würde dadurch noch prekärer; es droht die Abschneidung der Versorgungslinie. Ob es der russischen Armee gelingen wird, diese taktischen Vorstösse in einen Durchbruch auf operationeller Ebene auszubauen, ist allerdings fraglich. Der finnische Militäranalyst Pasi Paroinen geht davon aus, dass die nächsten 24 bis 48 Stunden dafür entscheidend sein werden.
Situation north of Pokrovsk - Myrnohrad salient is deteriorating rapidly with Russian forces rapidly infiltrating past Ukrainian lines at a depth of roughly 17km during the past three days. Forwardmost Russian units have reportedly reached the Dobropillya – Kramatorsk road T0514… pic.twitter.com/kir76E0Fs0
— Pasi Paroinen (@Inkvisiit) August 11, 2025
Die Lage ist in der Tat ernst, doch ein militärischer Kollaps droht kaum. Ein solcher Zusammenbruch, der sich in der Auflösung von Kommando- und Kontrollstrukturen, dem Verlust der Gefechtsübersicht sowie der Unfähigkeit zu geordnetem Rückzug oder koordinierter Verteidigung äussert, ist nach wie vor höchst unwahrscheinlich.
Jedenfalls konnten die Ukrainer seit nunmehr acht Monaten bedeutende russische Vorstösse in Richtung Pokrowsk jeweils vornehmlich mit Drohnenangriffen aufhalten. Die russischen Truppen rückten zwar langsam vor, erzielten aber keine entscheidenden Durchbrüche. In den letzten Wochen eroberten sie laut dem britischen Verteidigungsministerium etwa 500 bis 550 km² (zum Vergleich: Der Kanton Basel-Landschaft ist 518 km² gross). Gleichwohl steht mittlerweile beinahe das gesamte Gebiet der Oblast Donezk südlich von Pokrowsk unter russischer Kontrolle.
Der Russland-Experte Gerhard Mangott, Politologe an der Universität Innsbruck, sagte dem deutschen Nachrichtenmagazin «Focus»: «Russland hat die Gebietsgewinne in den vergangenen beiden Monaten deutlich ausgeweitet. Die ukrainische Verteidigungslinie ist mit zu wenigen Soldaten besetzt und eine neue Angriffstaktik macht es den ukrainischen Verteidigern auch schwer, diese Vorstösse zu unterbinden.» Mangott weist zudem darauf hin, dass die Ukraine in der Drohnentechnik ihren technologischen Vorsprung gegenüber Russland mittlerweile eingebüsst habe.
Mangott interpretiert die neuesten Vorstösse der russischen Armee zugleich als politisches Signal: Es handle sich – kurz vor dem Gipfeltreffen zwischen Trump und Putin in Alaska – auch um eine Botschaft an die USA. Russland zeige damit, dass es seine territorialen Ziele notfalls auch gewaltsam und ohne eine Vereinbarung zur Gebietsabtretung erreichen könne. Der Kreml hat in der Vergangenheit schon mehrfach Offensiven unmittelbar vor Verhandlungen eingeleitet, um sich damit taktische Vorteile zu verschaffen. (dhr)