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Frankreich im Umbruch: Macrons riskantes Spiel mit den Nationalisten

French President Emmanuel Macron reviews troops that will take part in the Bastille Day parade, Tuesday, July 2, 2024 in Paris. France will mark Bastille Day on July 14th. (AP Photo/Aurelien Morissard ...
Emmanuel Macron ist seit 2017 Präsident der fünften Französischen Republik. Ihm droht aber die Abwahl durch Marine Le Pen.Bild: keystone

Frankreich im Umbruch: Macrons riskantes Spiel mit den Nationalisten

Ob Marine Le Pen in Frankreich die Regierungsmehrheit erringt oder nicht: Präsident Macron, der sich im Kampf gegen die Rechte aufraffen wollte, hat die Partie bereits verloren. Chronik eines unvollendeten Shakespeare-Dramas.
05.07.2024, 18:5105.07.2024, 18:51
Stefan Brändle, Paris / ch media
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Es war spät am Abend, als Emmanuel Macron die Bombe platzen liess. Im kleinen Kreis sagte der französische Präsident: «Es ist besser, Geschichte zu schreiben, als ihr unterworfen zu sein.» Damit begründete er sein Vorgehen, das seine Landsleute schockieren würde: Nachdem er an diesem ominösen 9. Juni eine schwere Schlappe bei den Europawahlen erlitten hatte, war er zur allgemeinen Überraschung vor das Fernsehpublikum getreten. In einer konfusen Ansprache erklärte er, er löse die Nationalversammlung auf, da «der Vormarsch der Nationalisten und der Demagogen eine Gefahr für die Nation» sei.

Die konsternierten Franzosen verstanden die Welt nicht mehr: In Neuwahlen konnte doch nur Marine Le Pen gewinnen – eine Nationalistin und Demagogin! Doch Macron schien sich nicht einmal bewusst zu sein, dass er die Lepenisten aus dem Schandeck der Republik und direkt an die Macht im Staat holen könnte. Wie Vertraute im Elysée berichteten, schien er zufrieden über den Knalleffekt, mit dem er sich soeben in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt hatte.

Das Geschehen nahm allerdings den befürchteten Lauf: Nach einer Blitzkampagne fast ohne Programmdebatte erhielt das Le Pen'sche Rassemblement National (RN) Ende Juni im ersten Parlamentswahlgang 33,4 Prozent, weit vor der linken Volksfront und dem Macron-Bündnis. Trotz der hastig aufgestellten «republikanischen Front» mit ihrem gegenseitigem Kandidatenverzicht könnten die Lepenisten in der Stichwahl an diesem Sonntag die absolute Mehrheit gewinnen und die Regierung stellen.

Wer ist schuld am Chaos?

Für die Menschenrechtsnation wäre das ein politisches Beben, ein kultureller Dammbruch, eine beklemmende Grenzüberschreitung in das Jenseits der liberalen Demokratie. «Frankreich, das kannst du doch nicht tun!», hörte man aus den nicht minder entgeisterten Nachbarländern.

Wer ist schuld an dem Desaster? Die einen sagen: das System. Die Fünfte Republik Frankreichs, 1958 von Charles de Gaulle auf den eigenen Leib geschneidert, schützt den Präsidenten durch alle Frivolitäten und Fehlentscheide hindurch. «Gewaltenteilung» war für de Gaulle ein Fremdwort.

Die Justiz ist – wie in den USA – machtlos gegen die Immunität des Staatschefs, das Parlament darf nicht viel mehr als seine Gesetze absegnen. Was, wenn der Präsident – der in Frankreich über die nukleare Abschreckung gebietet – den Faden verliert, auf Irrwege abdriftet? Wenn er eine dem Land drohende Gefahr nicht entschärft, sondern selber noch verschlimmert? Die französische Verfassung hat keine Antwort.

Für die Franzosen ist es derzeit keine theoretische Frage. Es geht um Macron. Der Linkspolitiker François Ruffin nannte den Präsidenten nach der Parlamentsauflösung respektlos einen «taré», einen «Bescheuerten», der Frankreich mit seiner Hü-hott-Politik ganz konfus mache und ins Chaos stürze.

Verletzte Eitelkeit

Etwas klinischer wäre der Befund eines spontanen «acte manqué», wie man in Frankreich einen Freud'schen Versprecher, einen unbewussten Schnitzer nennt. Das macht die Dinge nicht besser, aber es erklärt einiges.

Macron behauptete nach der Neuwahlansetzung, er habe nicht aus einem Impuls gehandelt, sondern seit langem darüber nachgedacht. Der Ablauf spricht dagegen. In den Tagen vor dem 9. Juni hatte der französische Präsident am D-Day in der Normandie den Gastgeber für die Mächtigsten dieser Welt gespielt. Aufgekratzt, wie berauscht kehrte er laut Fernsehbildern nach Paris zurück – und landete hart: Am Abend kassierte seine Partei Renaissance seine erste gravierende Wahlniederlage seit seinem Amtsantritt im Jahr 2017.

Es muss für den selbstverliebten Staatschef ein Schock gewesen sein. Die Zeitung «Le Figaro» ortete eine «unerträgliche narzisstische Kränkung», zu Deutsch: verletzte Eitelkeit. Macron, ausgenüchtert nach dem diplomatischen Höhenflug, soll mit kalter Wut reagiert haben, nach dem Motto: «Wenn die Franzosen mich nicht wollen, dann sollen sie doch mit Le Pen glücklich werden.» Kurz nach Bekanntwerden des Wahlresultates trat er vor die Kameras und verkündete die Neuwahlen.

In seiner für einmal sehr trockenen Wortmeldung ging ein Satz unter: «Ich werde in nichts nachgeben.» Das war eine Ankündigung für die Zeit nach der Wahl, obwohl die Kampagne noch nicht einmal begonnen hatte. Macron ist schon weiter, er hat die Wahl abgehakt, antizipiert die «Kohabitation», die er womöglich mit einer Le-Pen-Regierung eingehen muss. Oder will?

Macrons Erfolg, auch sein Bestand im Elysée, verdankt er Le Pen. Bei den zwei letzten Präsidentschaftswahlen forderte er sie zum Duell heraus. Aufgrund von Studien wusste sein Team, dass die RN-Wählerschaft die gläserne Decke der 50-Prozent-Schwelle kaum je durchbrechen wird. Deshalb hatte er mit der Rechten in der Stichwahl leichtes Spiel: 2017 besiegte er sie mit 66,1 Prozent, 2022 mit 58,5 Prozent.

Eine schallende Ohrfeige

Bei den Parlamentswahlen ist es ein wenig anders: Dank des Mehrheitswahlrechts kann Le Pen mit ihren 33 Prozent die absolute Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung erringen und damit die Regierung stellen. Macron, der so verhasst ist, dass er von Zaungästen schon geohrfeigt wurde, könnte davon profitieren: Er würde sich einmal mehr als das letzte Bollwerk gegen die Aushöhlung der Republik durch die Rechten inszenieren.

Wenn der politisch unerfahrene RN-Premier Jordan Bardella (28) ein Ausländergesetz lanciert und durch das Parlament bringt, könnte der Staatschef die Unterzeichnung und damit die Inkraftsetzung verweigern. Die nachfolgende Regimekrise nähme er in Kauf: Macron lebt vom politischen Konflikt, sei es mit den Gelbwesten, den Impf- und Rentenreform-Gegnern oder den den Banlieue-Randalierern.

Seine Lieblingsfeindin bleibt aber Le Pen. An ihr kann er seine Eloquenz messen und in einer Kampf-Kohabitation neue Popularität gewinnen. Dank Le Pen kann er seiner zweiten Amtszeit einen Sinn geben.

Eine Selbstvernichtung in drei Schritten

Und dass er dank seiner siebenjährigen Erfahrung im Elysée mit den RN-Amateuren kurzen Prozess machen wird, daran zweifelt der von sich so eingenommene Präsident keine Sekunde. In seinen Wortmeldungen seit dem Europawahl-Fiasko hatte man nie das Gefühl, dass er eingesehen hat, wie riskant sein Vabanquespiel mit den Neuwahlen war.

Stattdessen dramatisiert er die Wahl verantwortungslos, indem er einen «Bürgerkrieg» zwischen Rechts- und Linksextremisten heraufbeschwört. Dass er die zum Zerreissen gespannte, fieberhafte Stimmung im Land selber verursacht hat, scheint ihm völlig zu entgehen. Am Sonntag vor dem ersten Parlamentswahlgang, an dem die Katastrophe Form annahm, flanierte Macron bei bester Laune mit Lederjacke und Baseballmütze durch den schicken Badeort Le Touquet.

Jupiter, wie man ihn zu Beginn seiner Amtszeit nannte, kennt keine Selbstzweifel. Das erhöht noch die Gefahr. Wenn Le Pen am Ende von Macrons Amtszeit, also 2027, Präsidentin wird, hat sie nicht mehr nur wie in einer Kohabitation die halbe Macht im Staat. Dann regiert sie, und dies mit der gleichen Allmacht, den gleichen Garantien wie alle Elysée-Herrscher.

Macron steht dagegen schon jetzt vor einem politischen Scherbenhaufen. 2017 war er angetreten, um in dem extrem polarisierten Frankreich einen dritten Block zu bilden. Inhaltlich wollte er die Pro-Europäer zum Sieg über die Nationalisten führen. Beides ist misslungen. Es war eine Selbstvernichtung in drei Schritten.

Akt eins: Macron zerlegte seine an sich natürlichen Partnerparteien, die Konservativen und die Sozialdemokraten, indem er sie ihrer Ideen und Vordenker beraubte. Was er übersah, war Akt zwei: Ihren Platz nahmen mehr und mehr die lauten, aggressiven Rechts- und Linksradikalen ein. Im Parlament, am Fernsehen, hört man nur noch sie. Jetzt läuft Akt drei: Die beiden Populisten Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon zerreiben selber Macrons Mitte-Lager im Zangengriff. «Der Macronismus ist gescheitert», urteilt die Kolumnistin von «Le Monde», Françoise Fressoz. Und mit ihm sein Gründer und Namensgeber. Ohne Land, ohne Truppen ist der Wahlmonarch heute sehr allein, sehr isoliert. Bloss: Weiss er das?

Fünf Jahre hält die Liebe zum Staatschef

epa11434047 French President Emmanuel Macron (L) and former French President Nicolas Sarkozy (R) applaud during the inauguration of the new Saint-Denis Pleyel metro station, in Saint-Denis, near Paris ...
Emmanuel Macron mit Nicolas Sakozy.Bild: keystone

Nun liesse sich einwenden, Macron sei nicht der erste unpopuläre oder fehlbare Präsident Frankreichs. Und die letzten zwei hätten sich weniger lang als Macron im Elysée gehalten. Der Konservative Nicolas Sarkozy (2007–2012) und der Sozialist François Hollande (2012–2017) erhielten bei ihrem Amtsantritt zwar eine Parlamentsmehrheit mit auf den Weg, wie das die Franzosen im ersten Überschwang über ihren neuen Wahlmonarchen jeweils tun. Fünf Jahre später wurden sie aber ohne Ehren abgelöst und ohne weitere Umstände durch den nächsten ersetzt.

Vor der Jahrhundertwende hatten die französischen Wähler nicht mehr Geduld gehabt. Dem Sozialisten François Mitterrand (1981–1995) und dem Gaullisten Jacques Chirac (1995–2002) setzten sie, sobald sie konnten, nämlich nach fünf Jahren, eine Kohabitation ins Nest, um ihre Alleinmacht zu brechen. Chirac löste 1997 sogar wie nun Macron ohne Not Neuwahlen aus. Er verlor sie prompt und beendete sein Mandat sehr ruhmlos im Schatten seines sozialistischen Premier Lionel Jospin, der gegen schwachen Widerstand Chiracs die 35-Stundenwoche einführte.

Macron hat es im Unterschied zu Sarkozy und Hollande immerhin in eine zweite Amtszeit geschafft. Warum? Eben, weil er Le Pen zu seiner grossen Gegnerin stilisierte und sie im Finale mit Hilfe der übrigen Parteien besiegte.

Aber jetzt funktioniert der Trick kein drittes Mal. Macrons Taktik, nach den Konservativen und Sozialdemokraten heute auch die Rechten zu zerstören, kommt wie ein Bumerang zurück. Der Gegner ist zu stark geworden.

Auch deshalb hat sich Macron womöglich unbewusst selber ein Bein gestellt: Um in seiner Allmachtsfantasie derjenige gewesen zu sein, der nicht nur seine Erfolgsjahre, sondern letztlich auch sein Scheitern bewirkt hat. Auf diese Weise bleibt Macron Herr der Geschichte, seiner Geschichte, wie er es an jenem schaurigen Wahlabend erklärte. Er, der charmante Politkiller, der Zerstörer im Massanzug, der alle befreundeten Kräfte eliminiert hat. Er kann nun von sich sagen, er habe auch das Drehbuch seines Niedergangs geschrieben. Shakespeare hätte den Hut gezogen. Nur der Schlussakt des Dramas ist noch offen: der Abgang der Hauptfigur. (ear/aargauerzeitung.ch)

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2 Kommentare
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