Rücktritt von Regierungschef in Frankreich: Welche Möglichkeiten hat Macron jetzt noch?
Sébastien Lecornu wird in die Geschichte eingehen als kurzlebigster Regierungschef der Fünften Republik. Im September von Präsident Macron zu seinem mittlerweile siebten Premier ernannt, hat der 39-jährige Liberalkonservative Lecornu sein Amt am Montag von sich aus abgegeben.
Verblüffung herrscht in Frankreich über das chaotische, fast surreale Geschehen an der Staatsspitze. Am Sonntagabend hatte Lecornu nach mehrwöchigem Hin und Her die wichtigsten Ministerposten besetzt. Zwölf Stunden später war die Ministerliste bereits hinfällig: Lecornu trat in seinem Regierungspalast vor ein Mikrofon und sagte mit linkischem Lächeln, er wolle «ein paar spontane Worte» sagen. Und dann: Er wird sein neues Amt niederlegen.
Auslöser ist eine – politisch vielsagende – Personalie. Zum Verteidigungsminister hatte Lecornu seinen Parteifreund Bruno Le Maire bestimmt. Andere konservative Republikaner erachten Le Maire aber als Verräter, da er 2017 zu Macron übergelaufen war. Ausserdem machen sie ihn verantwortlich für das Anschwellen der Staatsschuld um rund tausend Milliarden Euro seit 2017. Dieser Schuldenberg thront drohend über der aktuellen Haushaltskrise, zu deren Lösung Lecornu berufen wurde. Der Premier ist in erster Linie an dieser Frage gescheitert. Statt Einsparungen wollte er ein höheres Budgetdefizit akzeptieren – genau das, was er hätte verhindern sollen.
Die Reaktionen auf dieses überraschende, in Frankreich völlig unübliche Harakiri eines Premiers laufen alle auf dieselbe Person hinaus: Emmanuel Macron. Der Parteichef der linken «Unbeugsamen», Jean-Luc Mélenchon, verlangte am Montag direkt die Amtsenthebung Macrons. Die Sozialisten und die Rechtspopulistin Marine Le Pen verlangen, etwas gemässigter, Neuwahlen. Le Pen erklärte am Montag:
De Gaulle nahm den Hut
Viele Politologen sehen nur noch in Neuwahlen einen Ausweg aus der zunehmend bedrohlichen Regierungskrise. Andere glauben, dass Parlamentswahlen die aktuelle Blockade der Nationalversammlung kaum beheben würden, wenn die drei Links-, Mitte- und Rechtsblöcke ungefähr gleich stark blieben und sich damit gegenseitig neutralisierten. Die Verfassung von Gründervater Charles de Gaulle hatte mit einem ewigen Links-Rechts-Duell gerechnet; gegen die Lähmung durch drei Blöcke hatte keiner irgendwelche Instrumente vorhergesehen.
Auch die Ablehnung, die Macron heute entgegen brandet, hätte man sich 1958 kaum vorstellen können. Macron mag von Verfassung wegen der starke Mann der Republik sein; in der Politik hat er aber nur noch Gegner, wohin er auch blickt. De Gaulle selbst war 1969 bei weniger Gegenwind zurückgetreten. Macron scheint aber nicht bereit dazu, auch nur seine Demission in Betracht zu ziehen. Dabei hat der Verfassungsexperte Jean-Philippe Derosier in einem Zeitungsinterview erklärt:
Die letzten Getreuen des Staatschefs warnen allerdings vor seinem Sturz. Dies könnte nicht nur eine Regierungs-, sondern eine Regimekrise auslösen, sagen sie. Auch aussenpolitisch sollte Macron bis zum Ablauf seiner Amtszeit 2027 bleiben.
Macron selbst hält sich bedeckt, als hätte es ihm im Elysée die Sprache verschlagen. Getrieben, unpopulär, ja verhasst, laboriert er immer noch an seiner Ursünde, der verpatzten Parlamentsauflösung von 2024. Machtlos muss er zusehen, wie ihm die Zügel der französischen Politik entgleiten.
Es heisst, der Präsident bereite gerade eine Rede an die Nation vor, um Wichtiges anzukünden. Doch was steht ihm aus seiner Sicht noch offen? Einen neuen Premier – seinen achten – ernennen? Der nächste Regierungssturz wäre programmiert. Neuwahlen ausschreiben? Damit würde er der Rechtspopulistin Marine Le Pen das Tor an die Macht öffnen. Als Präsident zurücktreten? Das kommt für den von sich eingenommenen Präsidenten nicht infrage.
Mit anderen Worten: Frankreich steckt in der Sackgasse. Die grosse, kartesianisch denkende Nation ist mit ihrem politischen Latein am Ende. Das Besorgniserregende dabei ist: Wenn die Vernunft versagt, kocht in Paris meist die Leidenschaft hoch, sei sie nun revolutionär oder reaktionär. Beides ist gefährlich. Das ist genau das, was Europa im jetzigen Moment wirklich nicht gebrauchen kann. (aargauerzeitung.ch)