Die Franzosen und ich, wir stecken am Vorabend der Wahl gründlich fest. Irgendwo zwischen dem Flughafen Charles de Gaulle und der Gare du Nord von Paris geht plötzlich gar nichts mehr. Unser Zug bleibt einfach stehen. Keiner weiss, wieso. Es unterhält sich aber auch kein Mensch. Im gut gefüllten Zug herrscht Stille.
«Komisch», denke ich mir noch. «So kenne ich die Pariser überhaupt nicht.» Während meiner Studienzeit habe ich für ein halbes Jahr in der französischen Hauptstadt gelebt und seitdem war ich sicher jedes Jahr mindestens zweimal hier. Dass die kleinen Vororte in der Banlieue nicht unbedingt die pure Lebensfreude ausstrahlen, war mir durchaus bewusst, aber dermassen trist hatte ich sie nicht in Erinnerung.
Und so sitzen wir da. In dem Zug, in dem alle schweigen und niemand weiss, wie es weiter geht. Stillstand und Ratlosigkeit – eine Kombination von Gefühlen, die ich an diesem Wochenende nicht zum letzten Mal empfinden sollte.
Als ich im Hotel ankomme, werde ich von Rezeptionist Fayçal in Empfang genommen: «Sie kommen aus der Schweiz? Oh wie schön! Je nach dem, was morgen passiert, werde ich auch dort hinziehen.» Ich bin noch keine zwei Minuten da und schon stecke ich mitten in einer politischen Diskussion.
Die Idee mit dem Umzug in die Schweiz meint der 39-jährige Franzose wohl nur halb ernst, aber seine Sorgen und Ängste um seine Heimat sind echt. Fayçal stammt ursprünglich aus Algerien, lebt seit zwölf Jahren in Frankreich und hatte eigentlich François Fillon ins Präsidentenamt wählen wollen. Doch nach der Scheinbeschäftigungsaffäre um dessen Frau war der konservative Kandidat für Fayçal nicht mehr wählbar.
«Jetzt werde ich also für Macron stimmen. Aber nicht, weil ich für ihn bin. Sondern weil es keine Alternative gibt, um den Front National zu verhindern», erklärt mir der Rezeptionist. «Unser Land ist schon jetzt gespalten, aber Marine Le Pen würde uns erst recht in zwei Teilen.»
Macron hält er für zu theoretisch, eigentlich wisse man überhaupt nicht, was mit dem 39-Jährigen als Präsident auf die Franzosen zukommen würde: «Klar ist für mich nur: Rein wirtschaftlich würden die nächsten fünf bis zehn Jahre hart, denn Marcon ist ein Kapitalist.» Trotz dieser Ungewissheit wird der gebürtige Algerier für Macron stimmen.
«Wobei, eigentlich würde ich Le Pen gerne einen Freifahrtschein geben und ihr sagen: ‹Hier, da hast du meine Stimme, jetzt kannst du mal fünf Jahre lang machen und zeigen, was wirklich hinter deiner grossen Klappe steckt.›» Was Fayçal tatsächlich im Fall eines Wahlsiegs von Marine Le Pen tun würde, weiss er nicht. Für den Moment herrschen auch bei ihm: Stillstand und Ratlosigkeit.
Am nächsten Morgen stelle ich mich auf das trubelige und aufgeweckte Paris ein, das ich kenne – und werde wieder enttäuscht. Am Tag der Wahl scheint Paris gar nicht aufstehen zu wollen.
Ich beschliesse mein absolutes Lieblingscafé, das «Les Deux Magots», aufzusuchen. Doch auch hier ist alles ein bisschen anders als sonst: Viele Tische sind von Einzelpersonen besetzt, die – mit Block und Stift ausgerüstet – scheinbar am Arbeiten sind. «Vielleicht auch Journalisten?», frage ich mich.
Links von mir sitzt eine Frau mit ihrer Tochter, offensichtlich aus England. Schräg gegenüber eine vierköpfige Familie aus der Schweiz – die Touristen zeigen sich gewohnt ausgelassen.
Und dann sind da noch ein älterer Herr und eine ältere Frau, die einander siezen. Beide sind elegant gekleidet und ganz offensichtlich Pariser. Sie unterhalten sich so leise, dass ich kaum ein Wort verstehe. Nur dass der Herr mit irgendetwas unzufrieden ist und dies ganz deutlich kundtut, bekomme ich mit.
Dann steht er auf und sagt: «Also, dann gehe ich jetzt mal wählen – und dann schauen wir weiter. Vielleicht kommt ja doch noch alles gut.» Na endlich, Schluss mit Ratlosigkeit und Stillstand! Hoffnung und Optimismus, das ist das, was die Pariser – und alle anderen Franzosen – dringend brauchen.
Geliebtes Paris, werde bitte ganz schnell wieder glücklich!