An den 15. April 2019 erinnert sich Geneviève Roy wie an den 11. September.
Das Feuer war kurz nach 18 Uhr ausgebrochen. Mehrere Wochen lang wollte die Pariserin die Bilder der brennenden Turmspitze nicht sehen. Sie konnte die Bilder nicht ertragen, wie die Turmspitze in die Glut des Dachstuhls stürzte und einen Teil der Kirche zertrümmerte.
Ein Jahr nach dem verheerenden Brand, am ersten Jahrestag der Katastrophe, suchte Geneviève Roy den Place Saint-Michel am linken Seineufer auf, um einen Blick auf die Kathedrale zu werfen. «Sie haben die «Bourdon Emmanuel» geläutet, die grosse Glocke im Südturm der Kathedrale.»
Es war ein Zeichen. Notre-Dame würde nicht einstürzen. Lange Zeit hatte man das Schlimmste befürchtet.
In den 1970er Jahren war Geneviève Roy Gymnasiastin im sechsten Arrondissement von Paris. «Wenn wir die Schule schwänzten, stiegen meine Freundinnen und ich auf den Nordturm von Notre-Dame», erzählt sie. Geneviève führt mit ihrem Mann Patrick das Zwei-Sterne-Hotel du Dragon im historischen Quartier Saint-Germain-des-Prés.
Im Eingangsbereich thront auf dem Marmor einer Kommode neben einem Eiffelturm die Lego-Nachbildung der Kathedrale, die vor fünf Jahren knapp der totalen Zerstörung entging und am Samstag wiedereröffnet wird. «Mein Sohn hat sie vor etwa einem Monat mit seinen Kindern gebaut.»
Man spürt einen gewissen Stolz, wenn Geneviève Roy über die Restaurierung der Notre-Dame spricht. Die Wette von Emmanuel Macron, die Kathedrale innerhalb von fünf Jahren originalgetreu wiederaufzubauen, wurde erfüllt. «Indem er die Leitung der Arbeiten einem ambitionierten General anvertraut hat (Red: General Jean-Louis Georgelin, der damals im Ruhestand war und im August 2023 verstarb), hat Macron die richtige Wahl getroffen.» Inmitten unruhiger politischer Zeiten bringt dieser Erfolg Hoffnung.
Bei der Wiedereröffnung am Samstag werden alle Probleme vergessen sein. Einheimische und Touristen sind voller Vorfreude, die sanierte Kathedrale zu bewundern. Aktuell ist der Vorplatz noch mit hohen Zäunen abgesperrt.
Die Menschen haben so sehr um die Notre-Dame gezittert, dass sich an diesem Nachmittag des 4. Dezember ein Hauch von Überheblichkeit mit dem Gefühl der Erleichterung vermischt. Eine pensionierte Mitarbeiterin eines Pharmaunternehmens schwärmt von der Schönheit der beiden verschonten Türme an der Hauptfassade: «Frankreich hat wirklich Talent.» Zu Passanten, die sie nicht kennt, sagt sie stolz: «Für die Restaurierung wurden Techniken der mittelalterlichen Gesellen angewandt.»
Es liegt eine spezielle Stimmung in der Luft. Man ist «Notre-Dame», wie man «Charlie» war, mit noch grösserer Einigkeit und Inbrunst. Die Crème de la Crème der Staatschefs wird bei der Wiedereröffnungszeremonie anwesend sein, mit Donald Trump als amerikanischem Star. Michèle, ist nicht begeistert:
Inmitten der hohen Gäste, die von Emmanuel Macron eingeladen wurden, wird auch die 19-jährige Mathilde sitzen. Die junge Frau wohnt in Neuilly-Plaisance im Departement Seine-Saint-Denis. Sie hat im September eine Lehre als Steinmetzin begonnen. Die Restaurierung von Notre-Dame ist ihre «erste Baustelle», sagt sie mit funkelnden Augen. In ihren Händen hält sie ein dickes Buch. Es ist das offizielle Werk zur Restaurierung, das ihr von ihrem Arbeitgeber, der Firma CCR (Champagne Construction Rénovation), überreicht wurde.
Mathilde kommt gerade von einem Essen, das den Handwerkern der «Jahrhundertbaustelle» im Restaurant «A l'ombre de Notre-Dame», direkt neben der Notre-Dame spendiert wurde. Die Auszubildende hatte die Ehre, den letzten «Stöpsel» ihres Unternehmens auf der Baustelle anzubringen.
Ein «Stöpsel» ist ein Steinblock, der so behauen wird, dass er eine Lücke in einer Mauer füllt. Mathilde hat Kunstgeschichte und Architektur studiert, bevor sie sich aus Freude für eine handwerkliche Tätigkeit entschied. Sie erzählt von ihrem Werkzeugkasten, der sie bei ihrer Arbeit begleitet. Darin befinden sich feine und breite Meissel, die denen von Tischlern ähneln, aber für Stein gedacht sind.
Im nächsten Jahr kann Mathilde eine lange und lehrreiche sechsjährige «Tour de France» beginnen, die sie zur «Gesellin» machen wird.
Mado, nicht aus derselben Generation, bereitet sich darauf vor, die Leitung des Restaurants «A l'ombre de Notre-Dame» zu übergeben. Sie ist hier die Chefin. «Ich bin seit 60 Jahren hier», erzählt die Frau, die schon oft mit Journalisten gesprochen hat und jetzt zögert, es noch einmal zu tun. «Sie müssen ja auch ihre Aufgabe erfüllen», entschliesst sie sich. Mado ist gläubig.
Am Abend des 15. April 2019 sass sie mit Bischof Patrick Chauvet – dem damaligen Rektor von Notre-Dame – auf der schmalen Terrasse ihres Restaurants. Plötzlich sahen sie, wie eine kleine Flamme aus der Turmspitze der Kathedrale stieg. Die Katastrophe nahm ihren Lauf – die Ursache für den Ausbruch des Feuers ist bis heute ungeklärt.
Die nächsten Stunden waren sehr chaotisch.
Den Bischof, die Pfarrer und die Handwerker, die die Kathedrale restaurierten – Mado «liebt sie alle». «Ich habe die Turmspitze fallen sehen», sagt sie und nickt dabei. Während der Bauarbeiten – ausser in der Zeit der Pandemie, als alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen waren – diente ihr Restaurant als Kantine für die Arbeiter auf der Baustelle.
Mado pendelt mit wachsamen Augen, einer Mütze auf dem Kopf und einer Daunenjacke zwischen Saal und Terrasse hin und her. Die Figuren des Quasimodo und des Wasserspeiers, die vor 40 Jahren von Gesellen für sie geschnitzt wurden, bestehen aus dem Lutetianischen Kalkstein, mit dem auch Notre-Dame geschmückt ist. Die Chefin serviert Königinnen-Pasteten «vol-au-vent» und gute Charcuterie.
In der Mitte des Raumes sitzen vier Männer an einem Tisch, drei Gerüstbauer und ein Dachdecker. Sie stellen sich vor. «Setzen Sie sich», sagen sie. Man erkennt einen von ihnen. Er wurde in einem Dokumentarfilm über die Restaurierung der Notre-Dame interviewt. Der Film wurde am Abend zuvor auf France 2 ausgestrahlt. Es handelt sich um Didier Cuiset, den Direktor von Europe Echafaudage, dem Unternehmen, das für die Gerüste auf dem Gelände der Kathedrale zuständig ist.
Die Zeit ist bereits reif für Erinnerungen, auch wenn die Baustelle noch nicht abgeschlossen ist.
Didier ist ein wichtiger Mann. Er war bei der letzten Baustellenbesichtigung am 29. November in Anwesenheit des Staatsoberhaupts dabei. Auch am Samstag wird er wieder dabei sein, inmitten vieler wichtiger Leute. Aber was für ihn – manchmal fast den Tränen nahe – zählt, sind seine «Männer», seine «Jungs». Diejenigen, die die 316 Tonnen Gerüst abgebaut haben, die durch den Brand am 15. April 2015 in einen unentwirrbares Durcheinander verwandelt wurden.
Zu Didiers geschätzten Männern zählte auch der 64-jährige Azzedine Hedna, der zwei Wochen vor der Wiedereröffnung plötzlich verstarb und dessen Andenken am 29. November in der Kathedrale mit Applaus gewürdigt wurde. Er war der einzige, dem an diesem Tag diese Ehre zuteilwurde.
Es gab Momente, die den Chef-Gerüstbauer verletzten. Zum Beispiel, als «die Medien nur Augen für die Seilarbeiter hatten, die wie Akrobaten damit beschäftigt waren, die beschädigten Gerüste abzubauen. Das ergab natürlich spektakuläre Bilder. Aber von den 316 Tonnen, die abgebaut wurden, erklärt Didier Cuiset, «haben sie nur neun Tonnen auch abtransportiert.»
Am Abend des Brandes musste das Gebäude sofort gesichert werden, insbesondere der Nordgiebel, wo sich die grossen Rosettenfenster befinden. Seine Firma Europe Echafaudage war gerade mit Arbeiten zur Instandsetzung der Turmspitze beschäftigt, als das Feuer ausbrach. Das Rätsel um die Brandursache treibt Didier Cuiset bis heute um.
Didier Cuiset hat 64 Stunden lang nicht geschlafen, nachdem das Drama begann. «Wir haben ausserhalb der Kathedrale Gerüste aufgebaut, um die Glasfenster zu entfernen, damit sie geschützt sind», erklärt Didier Cuiset. Während der gesamten Aufräum- und Rettungsarbeiten musste man den Überblick behalten. «Ich musste General Georgelin rapportieren. Wir waren von Anfang an beeindruckt. Er war ein echter Anführer.»
Didier fasst die Stimmung in einer Formel wie folgt zusammen:
Der Dachdeckermeister Bruno Chapelet – einer der vier am Tisch – erzählt, wie er und seine Männer die Bleikappe an der Turmspitze angefertigt haben:
Mehr als 2000 Handwerker und Gesellen waren an der Restaurierung von Notre-Dame beteiligt. Für den Wiederaufbau des originalgetreu nachgebildeten Dachstuhls – den sogenannten «Forêt» – wurden 2000 Eichen gefällt.