International
Gesellschaft & Politik

Russen-Kriegsgefangene: «Wenn wir uns zurückziehen, erschiessen sie uns»

Russische Kriegsgefangene zeigen Reue: «Wenn wir uns zurückziehen, erschiessen sie uns»

Neben kleineren Geländegewinnen macht die Ukraine bei ihrer Gegenoffensive auch Gefangene. Einige von ihnen bereuen, für Russland in den Krieg gezogen zu sein.
19.06.2023, 15:3019.06.2023, 15:52
Tobias Esser
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online
epa10352097 A still image taken from a handout video provided by the Russian Defence Ministry's press service shows a group of Russian servicemen sitting in a bus after a prisoner of war exchange ...
Russische Kriegsgefangene in der Ukraine: Soldaten berichten von mangelhaftem Training und fehlenden Einsatzkräften.Bild: keystone

Trotz vieler internationaler Vermittlungsversuche sieht es nicht so aus, als würde Russlands Krieg gegen die Ukraine bald enden. Vor etwa zwei Wochen begann die ukrainische Armee mit ihrer lang erwarteten Gegenoffensive. Das Ziel: So viele von russischen Truppen besetzte Gebiete zurückerobern wie möglich.

Laut Beobachtern des Krieges kommt die Ukraine dabei voran und dringt langsam aber stetig ins russisch besetzte Gebiet vor. Allerdings soll die ukrainische Armee noch nicht an den stärksten Verteidigungsstellungen der Russen angekommen sein. Trotzdem gibt es immer wieder Berichte über zurückeroberte Dörfer und Landstriche. Mit den Rückeroberungen wächst auch die Zahl der Kriegsgefangenen – denn nicht alle russischen Besatzer kommen ums Leben oder können sich hinter die besser befestigten Verteidigungslinien zurückziehen, wenn sie ihre Stellungen an die Ukraine verlieren.

Das «Wall Street Journal» hatte die Chance, mit einigen russischen Kriegsgefangenen zu sprechen. Deren Trupp aus etwa 20 Menschen ergab sich nach heftigen Feuergefechten mit der ukrainischen Armee in der Nähe der Kleinstadt Welyka Nowosilka in der Oblast Donezk. Wie denken die Gefangenen über den Krieg und ihre Rolle darin? Wie lief ihre Kapitulation ab?

Anatoli kommt aus dem Altai-Gebirge. Es liegt im südlichen Sibirien und grenzt an China und die Mongolei. Seine Einheit habe voller Angst in ihren Verteidigungspositionen auf die ukrainischen Soldaten gewartet. «Alle waren still und fragten sich, von welcher Seite sie wohl vorrücken», erzählte Anatoli dem «Wall Street Journal». «Unsere Angst war gross, denn niemand will sterben. Wir hofften einfach darauf, dass die ukrainische Gegenoffensive nicht kommt.»

epa10690891 Ukrainian prisoner of war Anatoly Gritsyk stands in the defendant's cage during a hearing in the Southern District Military Court in Rostov-on-Don, Russia, 14 June 2023. Twenty-four U ...
Russische Kriegsgefangene in einem ukrainischen Gefängnis: «Niemand will sterben.»Bild: keystone

In Russland habe es viel Propaganda über die Ukraine gegeben, berichtete Anatoli. «Uns wurde gesagt, die Ukrainer seien alle Nazis. Das haben wir überall gehört.» Der Soldat sagte, die russische Armee habe ihn ursprünglich als Fahrer und Mechaniker eingesetzt. Im Mai sei er dann allerdings an die Front beordert worden, in eine zwischen Bäumen gelegene Verteidigungsposition nahe Welyka Nowosilka.

In der vergangenen Woche habe es zwei Tage ohne Kampfhandlungen gegeben, erzählte Anatoli dem «Wall Street Journal». «Danach begann ein heftiger Angriff.» Der Kampf selbst sei völlig chaotisch gewesen. «Ich habe versucht, den Feind zwischen Artilleriebeschuss und Mörserfeuer im Feld vor uns zu sehen. Aber ich konnte niemanden erspähen.»

Nur wenige Minuten später hätten die ukrainischen Truppen seine Position erreicht, sagte Anatoli. Sie hätten Granaten in die Schützengräben geworfen und so seine Kameraden getötet, darunter auch seinen guten Freund Georgi. «Ich lief aus dem Schützengraben und schrie 'Ich ergebe mich, ich ergebe mich!'», erinnerte sich der Soldat.

Auch Anton aus St. Petersburg ist unter den Kriegsgefangenen, die das «Wall Street Journal» interviewt hat. Die russische paramilitärische Gruppe «Sturm Z» hatte ihn aus dem Gefängnis heraus für den Krieg rekrutiert. Er habe eine Freiheitsstrafe abgesessen, weil er Drogen verkauft habe, erzählte er. Für sechs Monate Kriegsdienst soll man ihm versprochen haben, ihm seine Strafe zu erlassen.

Schon bald nach seiner Rekrutierung sei ihm allerdings klar geworden, dass sein Leben für die Kommandanten der Armee nichts wert gewesen sei. Seine Einheit, die aus vielen rekrutierten Gefängnisinsassen bestanden habe, durfte sich seinen Angaben zufolge nicht zurückziehen. Hätte er diesen Befehl missachtet, wäre er von den «Zagradotrjad» erschossen worden – so heissen Blocktruppen in der russischen Armee, die den Rückzug ihrer eigenen Einheiten notfalls mit Gewalt verhindern sollen.

In der vergangenen Woche sei er bei Welyka Nowosilka verwundet worden. Geschosse hätten ihn ins Bein und in den Arm getroffen. Daraufhin hätten er und weitere Verwundete den anrückenden ukrainischen Truppen zugerufen, dass sie sich ergeben wollten: «Wenn wir uns zurückziehen, erschiessen sie uns», erzählte Anton im Gespräch mit dem «Wall Street Journal».

«Die Moral ist ziemlich niedrig», berichtete auch Dmitri. Er kommt aus dem Fernen Osten, jener Region Russlands, die an den Pazifischen Ozean grenzt. Auf den Kampf seien sie kaum vorbereitet worden: «Wir haben nur ein kurzes Schiesstraining und Grundlagen der Ersten Hilfe gelernt», sagte er. Danach sei er abkommandiert worden, um mit seiner Einheit die kleine Siedlung Staromajorske zu verteidigen, die im Süden von Welyka Nowosilka liegt.

Er erzählte laut «Wall Street Journal» mit zitternder Stimme von dem Moment, in dem seine Einheit unter ukrainisches Feuer geraten sei: «Sie beschossen uns mit Panzern, Mörsern und Artillerie.» Daraufhin sei er in Panik geraten. Gemeinsam mit einem Kameraden sei er mit erhobenen Händen aus dem Schützengraben getreten und habe sich ergeben.

Angst habe Dmitri vor allem vor einem möglichen Gefangenenaustausch. Er könne sich nicht sicher sein, wie ihn der russische Geheimdienst FSB behandeln werde. «Wenn ich die Möglichkeit dazu habe, will ich ablehnen, ausgetauscht zu werden», sagte er.

Verwendete Quellen:

  • wsj.com: "Tattered and Bandaged, Russian POWs Describe Ukraine’s Offensive"
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
23 Bilder, die Russlands Militärparade auf den Punkt bringen
1 / 25
23 Bilder, die Russlands Militärparade auf den Punkt bringen
Russland begeht am 9. Mai mit dem «Tag des Sieges» über Nazi-Deutschland seinen wichtigsten Feiertag.
quelle: imago-images
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Das könnte dich auch noch interessieren:
36 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Rivka
19.06.2023 16:25registriert April 2021
Ja, die Geschichten ähneln sich. Normalerweise würde ich sagen, sie sollen zurück und gegen den Kreml-Gnom aufbegehren. Aber wie soll ein Volk Austehen und gegen einen Tyrannen kämpfen, wenn es das nie gelernt hat? Habe mich ein wenig mit russischer Geschichte befasst. Die Menschen die dort leben, kennen nichts anders als einen 'starken' Führer. Sie dienten Zaren, dann sozialistisch-kommunistische Präsidenten, dann dem Despoten Putin. Etwas anderes als 'dienen' gab es für sie nie. Und ob es das je geben wird, bin ich mir auch nicht sicher.
474
Melden
Zum Kommentar
avatar
Doppellottotreffer
19.06.2023 16:41registriert September 2021
Selbstredend sind Soldaten Menschen. Aber wieso zum Geier ist hier im Artikel von einem "Trupp aus etwa 20 Menschen" und nicht Soldaten die Rede? Diese verharmlosende Umschreibung eines Soldatentrupps der ohne Grund in ein ein friedliches Land einmarschiert ist, ist unerträglich!
5417
Melden
Zum Kommentar
avatar
Walter Sahli
19.06.2023 16:18registriert März 2014
Und an welcher Stelle genau lesen wir über das Reuezeigen der russischen Soldaten?
243
Melden
Zum Kommentar
36
    «Zu lange den Märchenerzählungen geglaubt»: Wie stark ist Putins Armee wirklich?
    Täuscht Kreml-Herrscher Wladimir Putin bloss militärische Stärke vor, wenn er sämtliche Vorschläge für einen Waffenstillstand ablehnt und Friedensverhandlungen sabotiert? Zunehmend werden solche Expertenstimmen laut.

    Mit Ferndiagnosen ist es so eine Sache: Renommierte Experten wie Markus Reisner oder Alexander Gabujew haben in Interviews in dieser Zeitung vor einem Sieg Russlands gewarnt, sollte die Ukraine nicht wesentlich umfangreicher als bisher vom Westen mit Nachschub und neuer Militärtechnologie versorgt werden.

    Zur Story