Fünf Schüsse wurden am Dienstagabend in der Lange Leidsedwarsstraat im Zentrum der niederländischen Hauptstadt Amsterdam abgefeuert. Sie galten Peter R. de Vries, und zumindest ein Projektil traf sein Ziel. Der prominente Journalist, der gerade das Studio von «RTL Boulevard» verlassen hatte, musste auf der Strasse reanimiert und, am Kopf getroffen, in kritischem Zustand ins Krankenhaus gebracht werden. Dort kämpfen die Ärzte um sein Leben.
Der Anschlag auf De Vries kam nicht aus völlig heiterem Himmel: Der investigative Journalist hat sich mit seinen Recherchen im kriminellen Milieu viele Feinde gemacht. Zeitweise stand er deshalb unter Polizeischutz, verzichtete aber schliesslich darauf, weil er sich durch die Sicherheitsmassnahmen eingeengt fühlte und dadurch auch in seinen Ermittlungen behindert wurde. Dennoch ist es im Nachhinein zumindest erstaunlich, wie der 64-Jährige regelmässig beim Fernsehsender RTL zu Gast sein konnte – was ihn zu einem leicht zu findenden Ziel machte –, ohne dass die geringsten Sicherheitsmassnahmen ergriffen wurden.
Noch ist nicht klar, wer für die Tat verantwortlich ist und ob es Drahtzieher gab. Drei Verdächtige wurden verhaftet, einer von ihnen ist inzwischen wieder auf freien Fuss gesetzt worden. Ein 35-jähriger Pole und ein 21-jähriger Mann aus Rotterdam sitzen noch in Untersuchungshaft. Die Spekulationen in den niederländischen Medien zielen jedoch allesamt in dieselbe Richtung: Es geht um Drogenkriminalität, um das organisierte Verbrechen.
De Vries ist Berater des Kronzeugen Nabil B. im «Marengo-Prozess» gegen Ridouan Taghi, der als gefährlichster Verbrecher der Niederlande gilt. Der 43-jährige Taghi, der aus Marokko stammt und seit 1980 in den Niederlanden lebt, ist neben 16 weiteren Bandenmitgliedern unter anderem wegen sechsfachen Mordes angeklagt. Der Drogenboss stand auf der «Most-Wanted»-Liste von Europol, bevor er 2019 in Dubai verhaftet und an die Niederlande ausgeliefert wurde.
Das Drogengeschäft in den Niederlanden ist fest im Griff der sogenannten «Mocro Maffia», deren Mitglieder meist marokkanischer Herkunft sind. Sie führen den Drogenkrieg nicht mit Samthandschuhen: Abrechnungen werden mit Schnellfeuergewehren ausgetragen, Verräter leben gefährlich. So wurde vor vier Jahren in Amsterdam etwa der abgetrennte Kopf eines Hauptzeugen in einem Drogenprozess demonstrativ vor einer Shisha-Bar deponiert.
Wer sich mit Taghi anlegt, lebt besonders gefährlich. Mehrere Rivalen im Drogengeschäft sollen in seinem Auftrag beseitigt worden sein. Auch der Mord am Bruder des Kronzeugen Nabil B. im März 2018 und an dessen Anwalt Derk Wiersum im September 2019 werden ihm zur Last gelegt. Vor allem diese beiden Tötungsdelikte lassen vermuten, dass auch der Auftrag für den Anschlag auf De Vries aus diesem Umfeld kam. 2019 sagte De Vries selbst, er stehe auf Taghis Todesliste. Diese Äusserung fand jedoch statt, bevor er Vertrauensperson von Nabil B. wurde.
De Vries wurde allerdings nicht nur aus dem Umfeld der «Mocro Maffia» bedroht. Auch Willem Holleeder, genannt «De Neus» («die Nase»), zählt zu seinen Feinden. Holleeder, einer der bekanntesten Verbrecher der Niederlande, wurde 1983 bekannt als Entführer des Brauereibesitzers Freddy Heineken und dessen Chauffeur. De Vries verfolgte den Prozess als Reporter und spürte 1994 das letzte noch flüchtige Mitglied der Entführerbande in Paraguay auf. Holleeders Feindschaft zog er sich zu, weil er dessen Schwestern unterstützte, die in einem Prozess gegen ihren Bruder aussagten.
Nachdem De Vries von Holleeders Todesdrohung erfuhr, veröffentlichte er 2019 das sogenannte «Holleeder Tape» – ein zuvor aufgenommenes Telefongespräch, das er mit Holleeder illegal über die abhörsichere Verbindung von Holleeders Anwalt geführt hatte. Holleeder hatte das Gespräch als eine Art Testament verstanden für den Fall, dass er umgebracht würde, doch De Vries fühlte sich nach dessen Drohungen nicht mehr an die Schweigepflicht gebunden. Holleeder sitzt derzeit eine lebenslange Haftstrafe ab, die er 2019 wegen sechs Auftragsmorden erhielt – im selben Hochsicherheitsgefängnis in Vught, in dem auch Taghi einsitzt.
Auch Bekir E., der im Dezember 2018 in Rotterdam die 16-jährige Schülerin Hümeyra erschoss, soll De Vries bedroht haben, wie dieser Ende 2019 auf Twitter bekannt gab:
Wie denkt dat Bekir E., de man die de 16-jarige Hümeyra doodschoot in Rotterdam, met het schaamrood op zijn kaken stilletjes in zijn cel zit, vergist zich... #hardleers pic.twitter.com/3Op5ep5CdT
— Peter R. de Vries (@PeterRdeV) November 27, 2019
De Vries, der bis 2012 seine eigene TV-Sendung «Peter R. de Vries, misdaadverslaggever» («Peter R. de Vries, Kriminalreporter») hatte, erhielt einen «International Emmy Award» für eine Folge seiner Sendung, in der er ein mit versteckter Kamera aufgenommenes Geständnis von Joran van der Sloot ausstrahlte. Der nach Aruba ausgewanderte Niederländer wurde verdächtigt, dort die amerikanische Teenagerin Natalee Holloway ermordet zu haben. Er verbüsst heute wegen Mordes an der peruanischen Studentin Stephany Flores eine 28-jährige Gefängnisstrafe in Peru.
Mit seinen Recherchen brachte De Vries indes nicht nur Verbrecher hinter Gitter, er schaffte es auch, die Unschuld von zu Unrecht Verurteilten zu beweisen. So etwa in der «Puttense moordzaak» («Mordfall von Putten»), in dem De Vries zusammen mit einem pensionierten Polizeikommissar Kritik am Prozess vorbrachte. Die beiden 1995 für den Mord an der Stewardess Christel Ambrosius Verurteilten mussten zwar zwei Drittel ihrer zehnjährigen Strafe absitzen, wurden aber nach ihrer Freilassung 2002 freigesprochen. 2008 wurde der wahre Täter gefasst.
Nach seiner Fernsehkarriere wurde De Vries Stammgast in niederländischen Talk Shows. Seine pointierten Auftritte dort brachten ihm nicht nur Anerkennung ein. Seit 2017 führt er zusammen mit seinem Sohn Royce und dem Anwalt Khalid Kasem eine Anwaltskanzlei in Amsterdam, obwohl er selber kein Jurist ist. Er betreut jedoch Kunden als Vertrauensperson, wie etwa Nabil B. – was ihn ins Fadenkreuz der «Mocro Maffia» gebracht haben dürfte.