Erneut werden in Tschetschenien offenbar LGBT-Personen verfolgt, eingesperrt und nach den Angaben der Organisation «Russian LGBT Network» sogar in mindestens zwei Fällen zu Tode gefoltert.
Bereits 2017 gab es in der russischen Teilrepublik eine Verfolgungswelle vor allem gegen schwule Männer. Etwa hundert Personen sollen laut Angaben von Menschenrechtsorganisationen festgenommen und in Lagern und Geheimgefängnissen eingesperrt worden sein. Die russische Zeitung «Nowaja Gaseta» berichtete unter Berufung auf Augenzeugen von mehreren Toten. Der tschetschenische Präsident und Putin-Freund Ramsan Kadyrow sagte dem amerikanischen Fernsehsender HBO, als er auf die Vorwürfe angesprochen wurde:
2. Kadyrov says if there are any gay people in Chechnya they should be removed in order to purify the blood of the Chechen people. pic.twitter.com/oTshkbFGLO
— Yashar Ali 🐘 (@yashar) 14. Juli 2017
Nach der internationalen Aufmerksamkeit ebbte die Verfolgungswelle 2017 zumindest ab. In den vergangenen Tagen häufen sich jedoch erneut Berichte über illegale Inhaftierungen, Folter und Tötungen von LGBT-Personen in Tschetschenien.
Die russische Nichtregierungsorganisation «Russian LGBT Network» unterstützt bereits seit 2017 Opfer der Menschenrechtsverstösse in Tschetschenien und ist vor Ort gut vernetzt.
Wir haben einen Sprecher des «LGBT Networks» interviewt. Aus Sicherheitsgründen möchte der Sprecher anonym bleiben, der vollständige Name ist der watson-Redaktion bekannt.
Was passiert in Tschetschenien gerade?
Allzu viel wissen wir ehrlich gesagt selbst noch nicht. Ende Dezember drangen erste Gerüchte aus Tschetschenien zu uns. Und wie schon bei der Verfolgungswelle 2017 wussten wir zunächst nicht, was stimmt und was nicht. Im Januar wurde dann aber klar, dass die Informationen über eine neue Welle der LGBT-Verfolgung wirklich wahr sind. Wir wissen mittlerweile von etwa 40 Menschen, die in Gewahrsam genommen wurden. Unseren Informationen zufolge wurden ausserdem mindestens zwei Personen getötet, sie wurden im Grunde zu Tode gefoltert.
Wie hat diese neue Verfolgungswelle begonnen?
Seit 2017 hat die Verfolgung von LGBT-Personen in Tschetschenien nie wirklich aufgehört, sie war nur nicht mehr so intensiv. Vor einer Weile hat die tschetschenische Polizei eine Person festgenommen, die mit vielen anderen aus der LGBT-Community in Kontakt stand. Dabei ist die Polizei auch an ihr Handy gelangt und hat damit begonnen, die ganzen Kontakte zu checken. So haben die Behörden all die anderen Opfer gefunden.
Wurden diese Menschen offiziell verhaftet, oder sind sie einfach verschwunden?
Die wurden nicht offiziell verhaftet, es gibt keinerlei offizielle Papiere. Die Polizei nimmt die Leute einfach fest und sperrt sie in Geheimgefängnisse. Das Ganze folgt keinem gesetzlichen Prozedere. Es gibt auch keine Rechtslage, die das rechtfertigen würde. Tschetschenien ist Teil Russlands und es gibt hier kein Gesetz, das es erlauben würde, Menschen zu verhaften, einzusperren und zu foltern, weil sie homosexuell oder transsexuell sind.
Ihr sprecht von mindestens zwei Toten. Habt ihr mehr Informationen darüber, wie diese Menschen gestorben sind?
Wir wissen sicher von einer Person, die erstochen wurde. In beiden Todesfällen wissen wir ausserdem, dass die Polizei versucht hat, mehr Informationen über andere Homosexuelle aus den Gefangenen herauszubekommen.
Ist das «LGBT Network» selbst in Tschetschenien aktiv, oder was ist die Quelle für eure Informationen?
In Tschetschenien gibt es keine LGBT-Aktivisten und auch keine LGBT-Organisationen. Dort gibt es nicht mal Menschen, die wirklich offen lesbisch, schwul, bi oder trans sind. Homosexualität ist dort stark stigmatisiert und wird als grosse Sünde angesehen. Eine Sünde, die die gesamte Familie betrifft und nur dadurch «weggewaschen» werden kann, dass die Person getötet wird. Deshalb gibt es in Tschetschenien keine wirklich offenen LGBT-Aktivitäten. Anders als an anderen Orten, in denen wir zum Beispiel Community Center betreiben, arbeiten wir dort deshalb nicht. Wir versuchen nur, Menschen dort heraus zu bekommen.
Und woher stammen eure Informationen dann?
Als die erste Verfolgungswelle begann, haben wir eine E-Mail-Adresse eingerichtet, an die sich Menschen in Tschetschenien wenden können, die in Gefahr sind. Am Anfang haben uns nur sehr wenige Menschen kontaktiert, weil sie nicht wussten, ob sie uns vertrauen können und ob wir ihnen wirklich helfen können. Nachdem wir aber den ersten geholfen haben, meldeten sich wie nach einem Schneeballprinzip immer mehr Leute bei uns. Dadurch bekommen wir mittlerweile mehr und mehr Informationen zugeschickt. Diese Informationen widersprechen sich teilweise auch, deshalb versuchen wir alles unabhängig zu verifizieren, bevor wir es veröffentlichen.
Wie verifiziert ihr solche Informationen?
Auch wenn wir keine Aktivisten in Tschetschenien haben, haben wir doch Kontakte dort. Ausserdem stehen wir in Kontakt mit Menschen, die Tschetschenien bereits verlassen haben, aber immer noch Kontakte vor Ort haben. Wenn wir neue Informationen bekommen, sprechen wir also mit verschiedenen Menschen. Das ist oft ein komplizierter und langwieriger Prozess.
Du sagtest, dass die Verfolgungswelle von 2017 nie ganz aufgehört hat. Wie hat sich die Lage seitdem verändert?
Die Verfolgung hat zwar nie gestoppt, aber ich bin mir sicher, dass die öffentliche Aufmerksamkeit 2017 dazu beigetragen hat, dass die erste Verfolgungswelle zumindest abgeklungen und nicht weiter eskaliert ist. Jetzt ist die Verfolgung meiner Einschätzung nach jedoch noch gewaltsamer. Jetzt werden auch Frauen gemeinsam mit den Männern eingesperrt. Davor wurden Frauen und Transpersonen «nur» ihren Familien übergeben, was eine weitere Form der Verfolgung ist. Die Behörden versuchen im Moment ausserdem alles Mögliche, um zu verhindern, dass Opfer die Region verlassen. Auch in Fällen, wo Menschen ihren Familien übergeben werden, behalten die Behörden deren Pässe.
Nach der letzten Verfolgungswelle hat die OSZE Russland aufgefordert, die Vorwürfe zu untersuchen. Gab es so eine Untersuchung bislang?
Nein, es gab keine ernstzunehmende Untersuchung. Es gab einen Versuch seitens eines Opfers, das Ganze juristisch aufzuarbeiten. Maxim Lapunov ist der einzige, der sich 2017 getraut hat, öffentlich zu machen, was ihm passiert ist. Er hat versucht, vor Gericht zu ziehen. Diese Untersuchung führte jedoch zu nichts. Wie auch: Dieselben Personen, die ihn vorher gefoltert haben, wurden damit beauftragt, Maxims Fall zu untersuchen. Es war deshalb von Anfang an klar, zu welchen Ergebnissen sie kommen würden.
Hast du irgendeine Hoffnung, dass die russische Regierung in Tschetschenien interveniert und die LGBT-Verfolgung stoppt?
Natürlich haben wir Hoffnung, sonst wäre unsere Arbeit noch härter. Wir hoffen noch immer, dass es genug internationalen Druck gibt, und hoffen auf die Hilfe internationaler Institutionen wie die Vereinten Nationen. Wir werden auf keinen Fall aufgeben. Und wir hoffen, dass es eine Zeit geben wird, in der alle Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Das «LGBT Network» ist eine laute Stimme. Geratet ihr nun selbst unter Druck, weil ihr über die Gewalt in Tschetschenien berichtet?
Ja, wir mussten eine ganze Menge an Sicherheitsvorkehrungen einführen. Tschetschenien ist in Russland als sehr unsicherer Ort bekannt. Und die Arbeit in Tschetschenien kann ziemlich gefährlich sein. Mehrere Journalisten und Menschenrechtler, die sich mit der Lage in Tschetschenien beschäftigen, wurden in der Vergangenheit getötet. Darum versuchen wir, uns auf verschiedene Art und Weise zu schützen.
Diese Gefahr besteht auch, wenn man gar nicht in Tschetschenien, sondern in Moskau oder St. Petersburg ist?
Absolut. Uns sind Fälle von Menschen bekannt, die aus Tschetschenien weggezogen sind und trotzdem tausende Kilometer entfernt von ihren Verwandten angegriffen wurden. In anderen Fällen wurden Menschen entführt und nach Tschetschenien zurück gebracht.