Herr Thunert, ist Kamala Harris wirklich die beste Wahl für die Demokraten?
MARTIN THUNERT: In einem Idealszenario hätte Joe Biden bereits im Oktober 2023 gemerkt, dass er zu alt wäre für die nächsten vier Jahre als US-Präsident und hätte da verzichtet. Die Partei hätte dann eine richtige Vorwahl abgehalten, mit mehreren Bewerberinnen und Bewerbern – wovon eine Kamala Harris gewesen wäre.
Und hätte sich Harris in diesem Szenario durchgesetzt?
Möglicherweise nicht. Aus dem Milieu der Demokraten sowie auf Social Media hat man durchaus Zweifel daran gehört.
Nun ist die Realität aber eine andere, es wird mit grosser Wahrscheinlichkeit die Vizepräsidentin ins Rennen gehen.
Genau. Jetzt fehlen nur noch wenige Wochen, bis die Wahl in die heisse Phase geht. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es in einigen Bundesstaaten ein «Early Voting» gibt: Keine Briefwahl wie bei uns, sondern da werden wirklich Wahllokale schon geöffnet. Dort beginnt also die Wahl Mitte September, in knapp zwei Monaten. Für eine richtige Vorwahl bleibt da eigentlich keine Zeit mehr.
Und unter diesen Umständen ist Harris die richtige Wahl ...?
Ich glaube schon. Für jeden anderen Kandidaten hätte schlicht die Zeit gefehlt, sich landesweit so bekannt zu machen wie die Vizepräsidentin. Unter diesen Umständen ist Harris quasi alternativlos – auch wenn ich dieses Wort nicht so mag. Es gibt immer Alternativen.
Zum Beispiel?
Michelle Obama hätte in den Ring steigen können, sie ist genauso bekannt. Aber sie will nicht in die Politik, das wissen wir jetzt mittlerweile seit acht Jahren.
Abgesehen von ihrer Bekanntheit: Was spricht für Kamala Harris?
Sie hat es zuletzt geschafft, die demokratische Basis, gerade die Minderheiten – Frauen, People of Color, möglicherweise auch die jungen Menschen – zu erreichen. Alles Wählergruppen, bei denen Joe Biden in den letzten Wochen abgeschmiert ist, muss man fast sagen. Zudem hat sich Kamala Harris im zuletzt sehr wichtigen Thema Schwangerschaftsabbruch profilieren können. Da sind ihre Auftritte als Staatsanwältin stark. In Kalifornien sagte man über sie: «She's a cop.» Das ist positiv gemeint – Harris ist taff und setzt sich erfolgreich für Frauen ein, so das Bild.
Am Ende sind es aber die Wählerinnen und Wähler in den Swing States, die entscheiden werden. Wie sieht es dort aus?
Hier deutet bislang noch wenig drauf hin, dass Harris
überzeugen konnte. In ihrer Rolle als Migrationsbeauftragte, vor allem an der Grenze zu Mexiko, hat sie keine gute Figur gemacht. Das war aber zugegebenermassen ein undankbarer Job. Sie wird zudem von manchen als «politisches Leichtgewicht» betrachtet.
Was heisst das?
Gerade in internationalen Fragen wird ihr ein Mangel an Erfahrung vorgeworfen. Zudem gab es ein paar Auftritte von ihr, zum Beispiel bei einem längeren Besuch in Frankreich, bei denen ihr Wissenslücken und eine gewisse Substanzlosigkeit vorgeworfen wurden. Es gibt aber auch Leute, die sie an der Münchner Sicherheitskonferenz gesehen haben, die das anders sehen.
Wie stark gewichten Sie diese «Unzulänglichkeiten»?
Harris hat noch Zeit, allen Kritikern zu zeigen, dass das Fehleinschätzungen sind. Dafür ist der Wahlkampf jetzt da. Zudem hat sie schon mehrfach bewiesen, dass sie ihren Gegner im Wahlkampf gut provozieren kann, das hat sie auch bei Biden sehr gut gemacht, als sie 2020 gegen ihn angetreten ist.
Was stellen Sie sich unter «provozieren» vor?
Gerade ihre Rolle als Staatsanwältin könnte Harris hier zugutekommen: Donald Trump, der ohnehin in mehreren Prozessen vor Gericht steht, hat Probleme mit Staatsanwälten, besonders mit weiblichen. Er wird schnell ausfällig, lässt sich zu Beleidigungen hinreissen. Das kommt jetzt im Wahlkampf – gerade beim weiblichen Stimmvolk, das es sich vielleicht überlegt hat, Trump zu wählen – nicht gut an. Wenn er sich nicht komplett ändert, und ich glaube, Trump ist dazu nicht in der Lage, wird ihn das in Schwierigkeiten bringen.
Kommen wir zu einer weiteren Personalie: der ehemalige US-Präsident Barack Obama, der ja noch immer grossen Einfluss in seiner Partei hat. Weshalb hat er sich noch nicht öffentlich hinter Kamala Harris gestellt?
Ich sehe dafür zwei mögliche Erklärungen. Einerseits: Obama ist ein smarter, erfahrener Politiker. Er weiss, dass Harris' Situation, ohne jeglichen Wettbewerb an der Spitze zu stehen, gar nicht unbedingt in ihrem Interesse ist.
Warum nicht?
Es mag formaljuristisch vermutlich alles okay sein, es bietet aber Angriffsfläche für den politischen Gegner. Die Republikaner werden wohl zum Beispiel den Zugang zu den Spendengeldern von Joe Biden anfechten. Es ist davon auszugehen, dass die Republikaner bei einem Sieg von Harris diesen aufgrund des fehlenden Vorwahlverfahrens als problematisch und als nicht-basisdemokratischen Prozess anprangern werden. Obama weiss das alles und hält sich entsprechend noch zurück. Ich halte eine persönliche Ablehnung hingegen für unwahrscheinlich.
Und was ist die zweite Möglichkeit?
Dass Obama weiss, dass es tatsächlich noch einen Überraschungskandidaten – ich glaube nicht, dass das eine Frau wäre – gibt. Dieses Szenario ist weniger wahrscheinlich, völlig ausschliessen kann man es aber auch noch nicht.
Kommen wir noch zur letzten Personalie von Interesse: Was würden Sie Kamala Harris raten bezüglich Vizepräsidentschaftskandidatur?
Hier ist die Meinung von Expertinnen und Experten eindeutig. Die Schwäche von Kamala Harris liegt in den fünf bis acht Swing States. Die meisten davon liegen im industrialisierten Mittleren Westen. Harris ist eine klare «Westküstenpflanze», seit acht Jahren auch eine «Ostküstenpflanze». Ihr Stil ist als liberale Kalifornierin, die auch ein Gespür für die Tech-Industrie hat, sehr durch diese Küsten geprägt. Das kommt zum Beispiel bei Menschen, die im Bergbau arbeiten, nicht unbedingt gut an.
Was bedeutet das für den Posten als Vize?
Harris sollte einen der Männer um die 50 Jahre – also leicht jünger als sie – aus einem Swing State wählen. Zum Beispiel der Gouverneur aus Pennsylvania, Josh Shapiro, derjenige aus North Carolina, Roy Cooper, oder auch der Senator aus Arizona, Marc Kelly – ein ehemaliger Astronaut.
Befragt man die Künstliche Intelligenz, dann wäre Josh Shapiro aus Pennsylvania wohl der ideale Kandidat. Er ist allerdings Jude und ein starker Israel-Befürworter. Das dürfte in Bezug auf die Gaza-Krieg-Proteste von links, die sich gegen die Regierung stellen, kaum dienlich sein. Auf jeden Fall ist es dieses Profil: ein weisser, bodenständiger Mann, der auch noch glaubhaft mehr als 20 Jahre Politik vor sich hat.
Man geht übrigens davon aus, dass Kamala Harris ihren Vizepräsidenten nächste Woche bekannt gibt.
Was passiert bis dahin noch?
Die möglichen Kandidaten werden jetzt bis auf die Nieren geprüft. Es wird sichergestellt, dass sie keine Leichen im Keller haben: dass sie ihre Steuern immer korrekt gezahlt haben, keine illegalen Haushaltshilfen beschäftigt haben, nie kontroverse Dinge gesagt haben, solche Sachen.
Sie haben einige Namen bereits genannt. Was ist eigentlich mit Pete Buttigieg, dem Verkehrsminister? Er gilt ja auch als beliebt.
Gut möglich, dass auch er sich unter den Kandidaten befindet, die zurzeit geprüft werden. Er würde ideologisch gut mit Harris harmonieren, hat Politikerfahrung und sicher auch noch politische Ambitionen. Die Frage ist aber diejenige nach seiner Homosexualität. Das sollte eigentlich keine Rolle mehr spielen und hier hat die Gesellschaft in den USA auch einen enormen Wandel durchgemacht.
Aber?
Es kann gut sein, dass sich Harris sagt, dass das etwas zu viel auf einmal ist: die erste Frau – und erst noch eine Woman of Color – und dann noch der erste Homosexuelle, der mit einem Mann verheiratet ist. Gut möglich, dass sie hier eher auf einen heterosexuellen, verheirateten Familienvater setzt. Aber apropos Vizepräsidentschaft: Ich glaube ja, dass eher Donald Trump auf den Falschen gesetzt hat.
Warum?
JD Vance und Trump sind beide bei den Frauen, die noch unentschlossen sind, nicht oben auf der Beliebtheitsskala. Trump hätte besser zugewartet und dann eine weibliche Vizepräsidentschaftskandidatin gewählt. Das könnte ihm nochmal auf die Füsse fallen.
Warum hat er sich denn überhaupt für Vance entschieden?
Weil Trump glaubt, dass Vance den «Trumpismus» in die Generation der Millennials übertragen kann. Das scheint ihm wichtiger zu sein, als dass er die strategisch beste Person wählt. Trump scheint so von sich überzeugt, dass er glaubt, die Skeptiker werden sich schon noch hinter ihn scharen.
Und Sie denken, das wird nicht so sein?
Auf dem republikanischen Parteitag sah das noch danach aus. Aber das hat sich schlagartig geändert, seit Joe Biden nicht mehr der Gegenkandidat ist. Trump muss sich jetzt viel stärker um die Unentschlossenen bemühen. Ein Hardliner an seiner Seite kommt da – wie gesagt, besonders beim weiblichen Stimmvolk – nicht gut an. Vor allem, da Vance sich auch schon abschätzig gegenüber kinderlosen Frauen geäussert hat.
Was bedeutet das alles für die heisse Phase der US-Wahlen?
Für mich ist das Rennen jetzt sehr offen, es steht quasi auf null. Vielleicht sogar mit ganz leichten Vorteilen bei Harris – sofern sie einen guten Vizepräsidenten wählt. Wir werden erst Mitte September erfahren, in welche Richtung sich die Umfragen wirklich entwickeln. Die führende Person könnte es danach auch bis ins Ziel schaffen.
Kommt dann noch eine Frau die ihm an den Karten fährt, gehen ihm komplett die Pferde durch.
Ich würde hier tatsächlich nicht übertreiben.