«Was in den USA passiert, wird die ganze Welt beeinflussen»
In der Welt bröckeln die Demokratien. Autokratisierung nennt man das, wenn ein Land Freiheit und Rechtstaatlichkeit verliert und sich die Macht auf wenige Köpfe verteilt. «Wir befinden uns in der stärksten Welle von Autokratisierung seit Beginn der Moderne», schreibt die schwedische Demokratieforscherin Marina Nord mit ihren Kollegen vom Institut Varieties of Demokracy (V-Dem) der Universität Göteborg in einer Studie.
45 Länder befinden sich in einem Autokratisierungsprozess, nur 19 bewegen sich in Richtung der Demokratisierung. Doch Marina Nord und ihr Team haben die Prozesse weltweit genau studiert und gesehen: In den letzten 30 Jahren haben 73 Prozent der von Autokratisierung betroffenen Demokratien sich nach kurzer Zeit erholt. Zum Beispiel in Brasilien, Polen, Sambia, Süd-Korea, den Solomonen, Peru, Moldavien, den Malediven, Equador oder Bolivien. Betrachtet man die Zeitspanne von 1900 bis 2023 waren es immerhin noch 52 Prozent, die den «U-Turn» also eine Umgekehrung geschafft haben.
Die Studienautoren um Marina Nord schreiben daher: «Wenn der Trend demokratischer Kehrtwenden sich fortsetzt, dann sollten wir in den kommenden Jahren fast 30 Episoden von Re-Demokratisierung sehen.» Wird die USA darunter sein? Das wollten wir von Marina Nord wissen.
Weshalb erodieren aktuell derart viele demokratische Nationen?
Marina Nord: Das ist eine grosse Frage. Die Forschung hat nicht die eine Antwort darauf. Einer der Hauptgründe ist der Vertrauensverlust in Demokratien, die keine Antworten auf wichtige gesellschaftliche Probleme liefern. Oft ist es die zunehmende Ungleichheit in der Bevölkerung, manchmal die Unzufriedenheit mit der Migration, es gibt einen kulturellen Backlash oder zunehmende Korruption. In den USA ist der Grund die extreme Polarisierung, welche einen Teil der Bevölkerung dazu bringt, einen Anführer wie Trump zu wählen. Kein Land ist immun gegen Autokratisierung. Sogar bereits autokratische Länder sind betroffen: Weissrussland und Nicaragua, zum Beispiel, versuchen noch autokratischer zu werden. Nur Nordkorea oder Afghanistan sind derart autokratisch, dass weitere Verschlechterungen kaum messbar sind.
Die Demokratieforscherin arbeitet am Institut Varieties of Demokracy (V-Dem) der Universität Göteborg, Schweden. V-Dem wird unter anderem von der Weltbank finanziert. Nord erforscht speziell die wirtschaftlichen Grundlagen der Instabilität autokratischer Regimes. Sie hat einen Doktortitel in Politischer Ökonomie und einen Master in Public Policy.
Sie schreiben, eine so grosse weltweite Welle der Autokratisierung sei neu, im 20. Jahrhundert habe es keine vergleichbare gegeben. Was stösst die Welle an?
Heutzutage kommen antidemokratische Anführer mit Wahlen an die Macht – wie Viktor Orbán in Ungarn und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei. Sogar Putin in Russland wurde zur Macht gewählt. Die Autokratisierungen dort geschahen nicht über Nacht mit einem Militärputsch, wie es im 20. Jahrhundert oft der Fall war. Heute findet sie schleichend und hinter einer legalen Fassade statt. Die Machthaber führen Gesetze ein, die ihnen nützen, um zum Beispiel die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken und politische Opposition zu unterdrücken. Hinzu kommt der gezielte Einsatz von Desinformation, welche die Polarisierung der Gesellschaft vertieft und das Vertrauen in demokratische Institutionen untergräbt. Selbst nach einer Re-Demokratisierung bleibt die Polarisierung oft bestehen, was zu neuen Autokratisierungsversuchen führen kann.
So kam Trump nach vier Jahren wieder an die Macht.
Genau. Wenn die demokratische Bewegung einen Sieg erringt, heisst das nicht, dass die populistischen Anführer weg sind. Trump war zuerst nur ein Symptom für viele tiefliegende Probleme in den USA. Aber als er gewählt war, wurde er zur Ursache der Autokratisierung und hat das polarisierte Klima weiter verstärkt. Die Biden-Regierung konnte die Probleme nicht lösen und die Polarisierung nicht beenden, sie konnte nicht einmal all den autokratischen Schaden wieder gut machen, den Trump angerichtet hatte.
Gemäss Ihrer Studie besteht eine 70 %-Chance, dass es nach einer Autokratisierung wieder zur Demokratisierung kommt. Aber was, wenn sich die Welt nun so verändert hat, dass solche Kehrtwenden unwahrscheinlicher sind?
Aufgrund der Ereignisse in den USA kann niemand voraussehen, wie es jetzt weitergeht. Speziell, wenn die USA ihre einstige Führungsrolle in der Demokratisierung der Länder weltweit nicht mehr wahrnehmen. Die USA waren zum Beispiel in Afrika und Lateinamerika wichtig für manche demokratischen Kehrtwenden durch die Stärkung der Zivilgesellschaft und die Unterstützung von sicheren Wahlen. Ausserdem sind die USA aktuell kein demokratisches Vorbild. Ich hoffe, dass zumindest die europäischen Länder ihre Vorbildrolle nutzen und die weltweite Förderung der Demokratie fortsetzen werden.
Bezüglich Ungarn ist das kaum geschehen.
Nein, erst 2022 hat das Europäische Parlament anerkannt, dass Ungarn keine Demokratie mehr ist. Mehr als zehn Jahre nach der Autokratisierung! Gegenüber Polen und der dortigen Gesetzesänderungen wurde die EU dann aktiver. Nicht genug in meinen Augen, aber immerhin.
Gegenüber den USA kann die EU nun wohl wenig bewirken?
Nein, kein anderes demokratisches Land ist kräftig genug dafür. Und klar ist, was in den USA passiert, wird die ganze Welt beeinflussen.
Ab wann sinken die Chancen für eine Kehrtwende?
Nach zwei Wahlzyklen oder acht bis zehn Jahren. Wenn eine Autokratisierung länger andauert, ist das genug Zeit um alle demokratischen Strukturen zu zerstören – dann muss man sie fast von Grund auf wieder aufbauen.
Das würde also für Russland gelten?
Ja, und inzwischen auch für die Türkei und Venezuela. Diese Länder sind nun stabile Autokratien mit zerstörten demokratischen Strukturen.
In welche Richtung bewegt sich die USA?
Ich wünschte, ich hätte eine Kristallkugel dafür. Jedenfalls ist die Statistik auf der Seite der Re-Demokratisierung: Es ist höchst wahrscheinlich, dass die Demokratie wieder hergestellt wird.
Sie schreiben, die Turnarounds würden etwa fünf Jahre später passieren – also gibt es eine gute Chance für die Wahlen 2028?
Ja, gewöhnlich passieren die Kehrtwenden durch die Wahlen. Ich erwarte jedoch keine grossen Veränderungen durch die Mid-Term-Wahlen. Und ich wünsche es den USA auch nicht, dass eine Wende ausserhalb einer Wahl passiert, weil das meist Gewalt bedeutet, ein Bürgerkrieg oder ein Militärputsch. 2028 wird ein Fenster offen stehen, um die Kehrtwende zu schaffen. Und auch dann wird es schwer genug, die Demokratie wieder aufzubauen.
Warum wird es schwer, die US-Demokratie wieder aufzubauen?
Trump ist noch nicht mal ein Jahr im Amt und die Entdemokratisierung ist schon sehr weit vorangeschritten. Das Tempo ist extrem. Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan haben für dasselbe mehrere Jahre gebraucht.
Das Wahlsystem ist aber noch intakt in den USA.
Ja, das Wahlsystem wird in der Regel auch als letztes angegriffen. Zuerst werden die Meinungsfreiheit, Medienfreiheit, akademische und kulturelle Freiheiten angegriffen. Dann folgt die Demontage der Justiz. Und der Kongress ist ja bereits heute Pro-Trump wegen der republikanischen Mehrheit. Trump nutzt dennoch regelmässig die Executive Orders, um Regelungen zu treffen, ohne die Zustimmung des Kongresses einholen zu müssen. Damit zeigt er, wie wenig Interesse er an der Demokratie hat. In dem Tempo lässt sich in vier Jahren einen sehr grossen Schaden anrichten. Und vieles – zum Beispiel die Auflösung von USAID – kann nicht mehr wirklich rückgängig gemacht werden.
Polen war eine Autokratie. Und doch gelang 2023 eine Kehrtwende.
Nein, Polen war noch eine Demokratie, als die Autokratisierung gestoppt wurde.
Die Demokratie war aber derart gefährdet, dass deren Rückeroberung Donald Tusks alleiniges Wahlkampfthema war.
Die demokratischen Institutionen und die Medien waren immer noch in Polen präsent, obwohl in schlechtem Zustand. Auch konnten die demokratischen Kräfte noch im Land operieren und nicht alle waren ausgewandert, wie das in Russland der Fall ist.
Wenn man also den Nullpunkt noch nicht erreicht hat, gibt es Hoffnung. Auch für die USA?
US-Journalisten arbeiten bereits mit Einschränkungen – die Universitäten leiden unter finanziellen Kürzungen. Aber sie sind alle noch da. Und sie haben die Hoffnung noch nicht verloren. Das ist der Unterschied, wenn man mit Leuten in der Türkei oder Weissrussland spricht: Sie haben aufgegeben. Aber auch wenn sich die Bevölkerung gegen Autokratisierung auflehnt, ist es nicht garantiert, dass dies zu einer dauerhaften Demokratie führt. In Südkorea zum Beispiel gingen zwei Millionen Leute im Jahr 2017 auf die Strasse und kämpften für die Demokratie. Letztes Jahr jedoch 2024 folgte ein weiterer Versuch der Autokratisierung und die Koreaner und Koreanerinnen kämpfen wieder für Demokratie. In Hongkong hat aller demokratischer Protest gegen China am Ende nicht geholfen.
Eine Frage noch: Interessanterweise behalten selbst die autoritärsten Regime wie Russland Pseudo-Wahlen bei. Warum?
Es gab sogar in der Sowjetunion Wahlen! Nordkorea hält regelmässig «Wahlen ohne Wahl» ab. Dadurch halten sie die legale Fassade aufrecht. Ausserdem ist es schwierig, Institutionen ganz loszuwerden – also benutzt man sie so, dass sie einem nützen. Das ist gut erforscht: Fake-Wahlen stabilisieren autokratische Regime auf verschiedene Weise.
Dadurch öffnet sich keine Türe zurück zur Demokratie?
Wahlen allein reichen nicht. Aber Wahlen können «magische Momente» sein, wenn alle Sterne günstig stehen: Wenn eine breite Oppositionskoalition und die Zivilgesellschaft in Massen für die Demokratie kämpfen, wenn es internationalen Druck gibt und die Justiz noch etwas zu sagen hat. (aargauerzeitung.ch)
