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Interview

Nowitschok-Erfinder: Putin könnte Nervengift im Krieg einsetzen

Nowitschok-Erfinder: Putin könnte Nervengift im Krieg einsetzen

Wil Mirsajanow entwickelte den tödlichen Kampfstoff – später half er, das illegale sowjetische Chemiewaffen-Programm aufzudecken. Er ist sicher: «Unter Putin werden chemische Waffen in gleichem Umfang entwickelt wie zu Zeiten der Sowjetunion.»
04.10.2025, 18:4504.10.2025, 18:45
Ivan Ruslyannikov / ch media

Der sowjetische Chemiker Wil Mirsajanow gehörte seit Anfang der 1970er Jahre zu einem Team von Wissenschaftern, das das Nervengift «Nowitschok» entwickelte. Daraus entstand eine chemische Waffe, von der bereits ein Milligramm einen Menschen töten kann. Der Kampfstoff wurde in die Bewaffnung der sowjetischen Armee aufgenommen.

Mirsajanow ist heute 90 Jahre alt und lebt seit 1995 in den USA. Dass er nach zahlreichen Tests grünes Licht für «Nowitschok» gegeben hat, bedauert er bis heute sehr.

epa06936924 (FILE) - Army officers remove the bench, where Sergei Skripal and his daughter Yulia were found, in Salisbury, Wiltshire, Britain, 23 March 2018 (reissued 09 August 2018). According to med ...
Sicherheitskräfte in Schutzausrüstung nach dem Nowitschok-Anschlag auf den russischen Ex-Spion Sergej Skripal in Salisbury, Grossbritannien, 2018.Bild: EPA/EPA

2018 wurden der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter in Salisbury mit Nowitschok vergiftet. Grossbritannien machte russische Agenten verantwortlich.

Zwei Jahre später wurde Wladimir Putins wichtigster Gegner, Alexej Nawalny, mit dem Nervengift attackiert. Er wurde in Deutschland behandelt, überlebte den Anschlag. Nawalny kehrte nach Russland zurück, wurde verhaftet und in einem Schauprozess in ein Straflager verbannt. Dort starb er im Jahr 2024.

Kürzlich veröffentlichte Julija Nawalnaja neue Fakten über die Umstände des Todes ihres Mannes. Auf einem Foto aus der Zelle, in der Nawalny untergebracht war, sind Blutspuren und Erbrochenes zu sehen. Ausserdem litt der Politiker laut Angaben seiner Witwe vor seinem Tod unter Krämpfen und einer Blutung im Scheitelbereich.

Nawalnys Team behauptet, er sei vergiftet worden. War es Nowitschok, das ihn umbrachte?
Wil Mirsajanow: Ich glaube nicht, dass es sich um Nowitschok handelte. Zum Zeitpunkt von Nawalnys Tod war Nowitschok bereits in die Liste der verbotenen Substanzen der Organisation für das Verbot chemischer Waffen in Den Haag aufgenommen worden. Daher glaube ich nicht, dass Russland sich entschlossen hätte, eine bereits bekannte Substanz zu verwenden und damit gegen diese Konvention zu verstossen. Ich vermute, dass Nawalny mit einer neuen Chemikalie vergiftet wurde, die noch nicht in der Liste des internationalen Vertrags aufgeführt war.

Wil Mirsajanow Vil Mirzayanov
Nowitschok-Erfinder Wil Mirsajanow.Bild: zvg

Geben die Symptome, die Nawalny vor seinem Tod hatte, Anhaltspunkte auf die Art des Gifts?
Es gab keine Berichte darüber, dass Nawalny kurz vor seinem Tod sein Augenlicht verloren hätte. Giftstoffe der Klasse Nowitschok verursachen nicht nur Krämpfe und Erbrechen, sondern auch eine starke Verengung der Pupillen, woraufhin eine Lähmung eintritt. Daher vermute ich, dass Nawalny mit einer neuen Substanz vergiftet wurde, deren Zusammensetzung noch unbekannt ist. Soweit wir wissen, ist es Nawalnys Team gelungen, bestimmte Biomaterialien zur Untersuchung ins Ausland zu bringen. Ich hoffe, dass es westlichen Experten gelingen wird, Spuren oder Abbauprodukte des Giftstoffes nachzuweisen.

Wie wirkt das Gift Nowitschok überhaupt auf den Menschen?
Nowitschok ist ein sehr toxisches Gift, dessen Vergiftung zu irreversiblen und unheilbaren Folgen für den menschlichen Organismus führt. Erfreulich ist, dass es Fortschritte gibt und Militärärzte in Grossbritannien und Deutschland bereits klinische Indikationen für Menschen kennen, die mit Nowitschok vergiftet wurden. Das Wesentliche ist, dass es sich um eine Nerven- und Lähmungsdroge handelt, die vor allem das zentrale Nervensystem des Menschen angreift. Zu einem bestimmten Zeitpunkt nach der Vergiftung werden bei dem Opfer in der Regel die Signale blockiert, die vom Gehirn an verschiedene Organe gesendet werden sollen. Die Atmung und der Herzschlag hören auf, und der Mensch stirbt. Um einen Menschen zu töten, reicht etwas weniger als ein Milligramm aus.

Was genau taten Sie in dem geheimen Institut der UdSSR, das Nowitschok entwickelte?
Ich habe Nowitschok nicht synthetisiert, sondern entwickelt und analysiert, wie es sich in der Luft, im Wasser, im Boden und im Aerosolzustand verhält. Da ich leitender Chemiker für interministerielle Tests am geheimen Institut für organische Chemie und Technologie war, gab ich grünes Licht dafür, dass Nowitschok in die Bewaffnung der sowjetischen Armee aufgenommen wurde. Entwickelt wurde Nowitschok vom Chemiker Juri Kirpitschew, und ich habe zusammen mit meinen Kollegen seine Feldtests in der Stadt Schichani in der Region Saratow durchgeführt, wo sich eine Zweigstelle unseres Instituts befand. Bis heute bereue ich, was ich damals getan habe, verstehen Sie? Es lag an mir, ob die sowjetische Armee Nowitschok in ihre Bewaffnung aufnehmen würde oder nicht. Ich schäme mich bis heute dafür, dass ich damals so eine dumme Tat begangen habe, die später tragische Folgen hatte.

Wie wichtig war die Entwicklung chemischer Waffen für die UdSSR?
Man muss verstehen, dass es sich hierbei nicht einfach um ein Gift handelt, sondern um eine Massenvernichtungswaffe. Und sie war für den Einsatz in Raketen und Artilleriegeschossen vorgesehen. Das Problem ist, dass im Falle eines Einsatzes von Nowitschok im Krieg in erster Linie die Zivilbevölkerung leiden würde. Die Führung der UdSSR behauptete, dass sie keine chemischen Waffen entwickle, daher arbeiteten wir sozusagen illegal. Michail Gorbatschow war trotz seiner Bekenntnisse zu Demokratie und Perestroika in erster Linie Kommunist und ein Produkt des sowjetischen Systems. Im Jahr 1991 verlieh er dem Direktor des Instituts, in dem ich arbeitete, und zwei Armeechefs den Lenin-Orden für ihre erfolgreiche Arbeit bei der Entwicklung chemischer Waffen. Das bedeutet, dass er dies förderte. Ich habe darüber in meinem Buch «State secrets: an insider’s chronicle of the Russian chemical weapons program» berichtet.

1992 wurde Ihr Artikel «Die vergiftete Politik» veröffentlicht, woraufhin Sie entlassen und wegen Verrats von Staatsgeheimnissen strafrechtlich verfolgt wurden. Was hat Sie dazu bewogen, diesen Artikel zu verfassen?
Ich wollte der ganzen Welt mitteilen, dass die UdSSR eine neue Art von schrecklicher chemischer Waffe entwickelt hatte, deren Wirksamkeit die damals bekannten Giftstoffe um das Achtfache übertraf. Da in der Sowjetunion keine Inspektionen vor Ort durchgeführt wurden, konnte die weitere geheime Entwicklung von Nowitschok unter einem Deckmantel erfolgen: Beispielsweise wurde vorgegeben, dass landwirtschaftliche Pestizide entwickelt würden, tatsächlich handelte es sich jedoch um Komponenten für chemische Waffen. Das beunruhigte mich damals sehr, und ich schrieb diesen Warnartikel. Infolgedessen wurde ich vom KGB verhaftet und der Weitergabe von Staatsgeheimnissen beschuldigt.

Wie haben Sie es geschafft, dass das Strafverfahren gegen Sie 1994 eingestellt wurde?
Ich wundere mich selbst noch immer, warum der KGB mich nicht beseitigt hat. Während der Ermittlungen musste ich meine Strafakte einsehen. Die Unterlagen enthielten unter anderem Dokumente über die Herstellung chemischer Waffen. Fast 60 Dokumente mit dem Vermerk «streng geheim», die ich studierte und in mein Notizbuch aufnahm. Die Ermittler wollten mir das verbieten, woraufhin ich ihnen sagte, dass ich in diesem Fall niemals unterschreiben würde, dass ich mit den Unterlagen der Strafsache vertraut bin, und dass dann alles nicht vor Gericht kommen würde. Jeden Tag kam ich zum Ermittlungsbüro, schrieb alles in mein Notizbuch, tippte es dann zu Hause auf der Schreibmaschine ab und ging zum Moskauer Büro von Greenpeace, von wo aus alles nach Amerika geschickt wurde. Das sorgte für viel Aufsehen, amerikanische Senatoren und Kongressabgeordnete sprachen sich für mich aus, und offenbar wurde das Strafverfahren gegen mich aufgrund des öffentlichen Drucks «mangels Tatbestand» eingestellt.

FILE - A chemical lab is on display during a briefing by Russian Foreign and Defense Ministries in Kubinka Patriot park outside Moscow, Russia, Friday, June 22, 2018. (AP Photo, File)
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Ein Chemielabor bei Moskau.Bild: keystone

Danach flohen Sie selbst in die USA.
Ich kämpfte ein ganzes Jahr lang darum, einen Reisepass zu bekommen. 1995 erhielt ich ein Visum und flog auf Einladung der American Association for the Advancement of Science nach Amerika, die mir die Auszeichnung «Wissenschaftliche Freiheit und Verantwortung» für meine «mutigen Handlungen zur Aufdeckung des illegalen russischen Programms zur Herstellung chemischer Waffen» verlieh. Ich bin sehr stolz auf diese Auszeichnung. Die Amerikaner boten damals Wissenschaftern, die aus Russland geflohen waren, gute Arbeitsplätze an, und ich bewarb mich. Ich sah für mich keine Zukunft mehr in Russland, und wie wir heute sehen können, ist die Lage dort nur noch schlimmer geworden.

Welche Veränderungen hat Nowitschok Ihrer Einschätzung nach während Wladimir Putins Amtszeit durchlaufen?
Unter Putin werden chemische Waffen, da bin ich mir sicher, in gleichem Umfang entwickelt wie zu Zeiten der Sowjetunion. Ich vermute, dass Nawalny im Gefängnis mit einer neuen Substanz auf Carbamatbasis vergiftet wurde, die meist in der Landwirtschaft zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt wird. Ich denke also, dass Putin mehrere Tonnen giftiger Substanzen in Form von binären Komponenten besitzt, aus denen man mächtige chemische Waffen herstellen kann. Binäre Komponenten sind schwer aufzuspüren, und ausserdem führt die Weltgemeinschaft derzeit keine Inspektionen vor Ort in Russland durch. Wenn ein Milligramm Nowitschok einen Menschen tötet, dann bedeuten die derzeitigen Bestände Russlands von mehreren Tonnen Millionen von Opfern. Artilleriegeschosse, die mit Nowitschok gefüllt sind – das wäre unvorstellbar. Ich befürchte, dass Putin, wenn er bewegungsunfähig und in die Enge getrieben wird, dies ohne zu zögern tun könnte. Alles, was mit dem Töten von Menschen zu tun hat, wird Putin weiterhin bereitwillig vorantreiben, das ist sein Credo.

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