US-Präsident Biden hat es der Ukraine erlaubt, Ziele in Russland mit amerikanischen Raketen anzugreifen. Wie wichtig ist dieser Entscheid für die Ukraine?
Alexander Dubowy: Diese Entscheidung war längst überfällig und wurde von der ukrainischen Führung über Monate hinweg angeregt. Im westlichen Bündnis wurde diese Option ausgiebig diskutiert, jedoch wiederholt abgelehnt. Umso überraschender ist der Entschluss von Joe Biden, der eine nahezu vollständige Kehrtwende seiner bisherigen Politik darstellt. Bislang hatte der US-Präsident grossen Wert darauf gelegt, die aus seiner Sicht für Russland entscheidenden roten Linien strikt einzuhalten.
Warum der Sinneswandel?
Die «New York Times» und die «Washington Post» berichten unter Verweis auf Quellen aus der Biden-Regierung, dass der Einsatz nordkoreanischer Truppen in der Region Kursk der eigentliche Auslöser für den Vorstoss Bidens sei. Aus Sicht der US-Regierung könnte der Entscheid zur Freigabe der Raketen also auch eine Art Warnung an Nordkorea sein, ja keine weiteren Truppen zu schicken, denn diese werden sofort mit Präzisionswaffen vernichtet.
An der Front kommen die Ukrainer immer stärker unter Druck. Gelingt ihnen mit den neuen Möglichkeiten jetzt die Wende?
Wir müssen hier zwischen der symbolischen und der militärischen Ebene unterscheiden. Die symbolische Ebene ist tatsächlich sehr wichtig. Es ist ein wichtiges Zeichen an die Ukraine. Rein militärisch wird diese Erlaubnis aber nicht die erhoffte Kriegswende bringen.
Welche Ziele in Russland wird die Ukraine mit den US-Raketen nun angreifen?
Kurzfristig wird es der Ukraine gelingen, durch den Einsatz der westlichen Langstreckenwaffen ganz gezielt russische Logistikzentren und Munitionsdepots anzugreifen. Auch grössere Truppenansammlungen Russlands, wie in der Region Kursk, werden ins Visier genommen, genau wie Militärflughäfen. Russland dürfte sich mittel- und langfristig aber sehr wahrscheinlich darauf einstellen können, etwa indem sie ihre Logistikwege diversifizieren, Versorgungszentren weiter ins Landesinnere verlegen oder verstärkt elektronische Störsysteme einsetzen.
Kommt der Entscheid der US-Regierung also zu spät?
Wäre diese Entscheidung vor einem Jahr getroffen worden, hätte sich die Situation deutlich anders dargestellt. Damals war die Lage der Ukraine wesentlich günstiger, und Russland hätte weniger Zeit gehabt, sich auf ein solches Szenario vorzubereiten. Nach monatelangen Diskussionen war für Putin jedoch absehbar, dass dieser Schritt kommen würde, und Russland bekam die Zeit sich entsprechend darauf vorzubereiten. Ob die Vorbereitungen erfolgreich waren, wird sich in den kommenden Wochen weisen.
Putin hat damit gerechnet?
Gewiss. Bei früheren Entscheidungen lief es ja ähnlich, etwa bei der Lieferung von modernen Kampfpanzern oder Flugabwehrsystemen. Auch der aktuelle Schritt ist lange angekündigt worden. Russland konnte sich daher darauf einstellen.
Über wie viele US-Langstreckenraketen verfügen die Ukrainer?
Das ist nicht öffentlich bekannt. Auch die Lieferfristen sind unklar. Die USA, aber auch Grossbritannien und Frankreich, mit denen die US-Entscheidung offenbar abgestimmt war, planen mehr Raketen zu liefern. Derzeit dürfte es sich aber eher um eine geringe Stückzahl handeln.
Der neu gewählte US-Präsident Donald Trump steht der Ukraine kritischer gegenüber als Biden. Er könnte alles wieder zurückdrehen.
Ab seiner Amtseinführung am 20. Januar könnte Trump so gut wie alle Entscheidungen Bidens aufheben. Es ist allerdings durchaus möglich, dass Biden diese Entscheidung mit Donald Trump in irgendeiner Weise abgestimmt hat. Für Biden ist es eine überraschende Kehrtwende, hatte er doch stets grosse Sorge vor einer unkontrollierbaren Eskalation. Und gerade beim Einsatz der Langstreckenwaffen hat Wladimir Putin Mitte September angekündigt, dass es sich tatsächlich um eine ganz klare rote Linie aus russischer Sicht handelt. Vor diesem Hintergrund wäre das Abstimmen des Entschlusses mit Trump nur logisch.
Wie wird Putin nun reagieren?
Meines Erachtens wird Russland gar nicht wirklich darauf reagieren können, denn die einzige Möglichkeit, die Moskau hat, diesen Konflikt massiv zu eskalieren, ist durch den Einsatz von Kernwaffen.
Das wäre die ultimative Eskalation. Putin hat zu früheren Zeitpunkten erklärt, dass ein Angriff auf russisches Territorium einen Atomschlag auslösen würde.
Wladimir Putin hat das gesagt, ja. Die nukleare Eskalation bleibt dennoch nur wenig wahrscheinlich. Schliesslich ist das russische Territorium schon längst angegriffen worden, beispielsweise durch ukrainische Drohnen, die russische Militärziele tief hinter der Front angriffen. Die Kertsch-Brücke auf die Krim wurde mehrfach attackiert. Und auch den ukrainischen Angriff auf Kursk sah Putin nicht als Grund, Kernwaffen einzusetzen.
Das ist noch keine Garantie, dass er es künftig nicht machen wird.
Russland betrachtet diesen Krieg nicht isoliert, sondern als einen komplexen politischen Prozess. Damit ist die politische Dimension genauso wichtig wie die militärische; wenn nicht sogar wichtiger. Zudem lässt sich Putin stets möglichst viele Handlungsoptionen offen. Mit einem Einsatz von Kernwaffen, selbst in einem sehr begrenzten Ausmass, würde Putin das Gros der Handlungsoptionen sofort verlieren und damit auch seine letzten Verbündeten. China und Indien haben Moskau mehrfach vor Kernwaffeneinsatz gewarnt und die USA eine sehr harsche Reaktion angekündigt.
Hier kommt nochmals Trump ins Spiel. Sein künftiger Sicherheitsberater hat vor einiger Zeit bereits erklärt, dass die Ukrainer Ziele in Russland angreifen können sollten. Halten Sie es für möglich, dass Trump anders handelt als der vorsichtige Biden und den Druck auf Putin erhöht, um ihn an den Verhandlungstisch zu zwingen?
Die Vereinigten Staaten scheinen über die Parteigrenzen hinweg ein Ende des Krieges herbeizusehnen. Eine der wichtigsten Fragen, die man dabei zu lösen hat, ist, wie bringt man Wladimir Putin dazu, diesen Krieg auch wirklich beenden zu wollen? Aus seiner Sicht gibt es aktuell sehr wenige Gründe dafür. Durch die aktuelle Entscheidung erhöht der Westen den Druck auf Moskau und zeigt Putin die Ausweglosigkeit seiner Kriegsbemühungen auf.
Wenn Amerika den Druck auf Putin weiter erhöht und die Europäer, vielleicht sogar Deutschland, folgen würden, könnte es also doch eine Art Kriegswende geben.
Keine militärische, aber möglicherweise eine politische. Es sieht auch danach aus, dass Grossbritannien und Frankreich mitziehen. Und Deutschland wäre sicherheitspolitisch isoliert, wenn sie es mit den Taurus-Lieferungen nicht auch täten.
Der ukrainische Präsident Selenski war nicht nur glücklich mit dem Entscheid. Er kritisierte, dass man das nicht öffentlich ankündige. Den Ukrainern wurde damit der Überraschungseffekt genommen.
Da hat Wolodimir Selenski natürlich recht, der Überraschungseffekt ist weg. Aber das zeigt ja auch wieder, dass der Westen gar nicht auf den militärischen Effekt setzt, sondern auf den politischen. Damit es zum politischen Game Changer werden kann, muss man es ankündigen und Putin so unter Druck setzen. Auf diese Weise signalisiert man ihm: Setzt sich an den Verhandlungstisch! (aargauerzeitung.ch)
Ich verstehe es und unterstütze es, dass endlich (!) der Ukraine die Möglichkeit an die Hand gegeben wird, sich adäquat wehren zu können, auch wenn es so langsam zu spät sein könnte....
Wenn nun der Russe nun wieder einmal von einer roten Linie schwätzt, dann soll er halt.
Was soll da überhaupt noch eskalieren können?
Lasst euch niemals von solchen faschistischen Ländern Angst machen! Appeasement führt bloss zu weiteren Überfällen.