International
Interview

Coronavirus: Nach dem Lockdown – Schweizerin aus China berichtet

epa08296717 A woman stands in a shop within the Shenzhen Electronics Market in Shenzhen, Guangdong province, China, 13 March 2020 (issued 16 March 2020). China's value-added industrial output, an ...
Shenzhen öffnet seine Shops – doch Normalität ist noch nicht eingekehrt.Bild: EPA
Interview

«Die Chinesen sind sich alle bewusst, dass das keine Schlacht ist, sondern ein Krieg»

Die Walliserin Fabienne Theler lebt und arbeitet seit anderthalb Jahren in der chinesischen Grossstadt Shenzhen. Die Stadt war zwei Monate im beinahe-Lockdown, jetzt sucht sie den Weg zurück in den Alltag. Wie geht das? Und was haben die zwei Monate mit den Menschen gemacht? Ein Gespräch.
26.03.2020, 15:5427.03.2020, 15:33
Marius Egger
Folge mir
Mehr «International»

Fabienne Theler, wann hast du das letzte Mal eine Hand geschüttelt?
Das ist eine sehr gute Frage (überlegt lange). Ah doch! Moment. Ich habe mir gestern die Nägel machen lassen. Diese Person musste natürlich meine Hände halten. Aber davor habe ich rund zwei Monate keine Hand mehr gehalten.

In Shenzhen kehrt das öffentliche Leben langsam zurück. Wie funktioniert sowas? Wie fährt man eine Stadt wieder hoch, die wochenlang in ihren Häusern ausharrte?
Das funktioniert hier gestaffelt. Zunächst haben sie ja alles geschlossen, ausser die Lebensmittelläden. Also alle Restaurants, Bars und sonstigen Läden. Dann machten sie die Restaurants wieder auf, aber man durfte nur vor der Türe draussen auf das Essen warten. In einem weiteren Schritt wurden dann wieder Leute ins Restaurant gelassen, aber es wurde Fieber gemessen und man musste Angaben über seinen Gesundheitszustand machen und die Telefonnummer hinterlassen, damit man sie ausfindig machen könnte. Mittlerweile wird eine beschränkte Anzahl Leute ins Restaurant gelassen.

Fabienne Theler
Fabienne Theler.Bild: Screenshot Skype
Zur Person
Die 34-jährige Fabienne Theler ist leitende Physiotheurapeutin in einer Privatklinik in Shenzhen. Die Walliserin lebt seit 2018 in der chinesischen Metropole im Süden des Landes.

Und gehen die Leute auch wieder ins Restaurant?
Ja, aber es ist kein Vergleich zu früher.

Weshalb?
Die Leute haben immer noch grossen Respekt. Es sind sich hier einfach alle bewusst, dass das keine Schlacht ist, sondern ein Krieg. China hat jetzt vielleicht die erste Schlacht gewonnen. Aber man ist sich bewusst, dass das Virus wieder zurückkommen kann.

>> Coronavirus: Hier geht's zum Liveticker mit allen News

Also keine Riesenparty rund um die Uhr und volle Bars?
Nein, überhaupt nicht. Die Chinesen sind sicher auch etwas zurückhaltender als andere Völker. Und die Angst ist einfach immer noch sehr präsent, das spüre ich momentan täglich.

Wie?
Ein Beispiel: Ich musste heute etwas in einer anderen Wohnung abholen. Eigentlich darf man ja jetzt wieder andere Leute besuchen, das war vorher nicht der Fall. Ich komme da also ans Tor der Siedlung, aber der alte Security hat sofort abgewunken, als er mich gesehen hatte. Er wollte mich nicht reinlassen, weil er dachte, ich sei Amerikanerin. Ich musste schliesslich den Chef rufen. Noch ein Beispiel ...

Ja, bitte.
Wenn ich heute in den Lift gehe, will keine andere Person mitfahren. Das ist aber erst der Fall, seit in Europa und den USA die Zahlen dermassen gestiegen sind. Die Leute haben Angst, dass sie sich anstecken könnten. Und alle, die nicht chinesisch aussehen, sind eine potenzielle Gefahr.

Wie war denn die Zeit während dem fast «Shutdown»?
Das war so krass! Bei uns gab es ja nicht den totalen Shutdown wie in Wuhan. Man durfte eigentlich auch weiter raus, ähnlich wie in der Schweiz. Aber ich habe in den acht Wochen selten ein Kinderlachen gehört. Sehr selten. Und ich wohne in einem grossen Appartementblock mit vielen Familien. Die Stadt war leer. Es hatte keine Leute auf der Strasse, auch Verkehr gab es eigentlich keinen mehr. Ich ging einmal an der Strandpromenade spazieren und habe zum ersten Mal die Wellen an die Boote klatschen hören. Sogar Vögel habe ich pfeifen gehört! Unglaublich. Die meisten Leute haben sich die Esswaren auch nach Hause liefern lassen.

Video: watson/marius egger, nico franzoni

Shenzhen bekämpft mit modernsten Mitteln das Virus. Es gibt sogar eine Anti-Virus-App, bei der man sich registrieren muss.
Genau. Wenn man etwa einkaufen geht, muss man über diese App erst einige Fragen beantworten, ob man Fieber hat oder wie man sich fühlt. Danach kriegt man einen QR-Code, mit dem man sich vor dem Eintritt in den Supermarkt anmelden muss. Dasselbe gilt übrigens auch für den Zug, auch dort kann man sich über einen QR-Code registrieren. Im Zug ist es aber freiwillig – trotzdem machen es alle.

Die Chinesen können so die Corona-Fälle zurückverfolgen, fordern aber auch viele Daten. In unseren Breitengraden würde das zumindest eine grössere Diskussion auslösen. Nicht so in China.
Nein, für die Chinesen ist klar, dass die Datennutzung sinnvoll ist. Man will die Leute ausfindig machen, die potenziell gefährlich sein können. Und die Regierung informiert die Leute auch sehr gezielt. Wenn eine Frau in einem Bus infiziert war, bekommt man sehr genaue Angaben, welche Leute in welchem Umkreis um die Frau ebenfalls infiziert waren. Die Regierung stützt so ihre Datensammlung mit Fakten, das trägt wohl auch dazu bei, dass das Verständnis der Leute für die Datensammlung tolerierter ist. Mir kommt grad noch was in den Sinn, das zeigt, was Datensammlung nützen kann.

Erzähl.
Ich weiss von einem Fall hier, da hat es abends um acht Uhr an der Tür geklopft und vor der Türe standen fünf vollvermummte Leute. Sie gingen in die Wohnung, haben alles desinfiziert und die Bewohner aufgeklärt, dass es in ihrem Umfeld einen positiven Fall gebe und sie jetzt 14 Tage in Quarantäne bleiben müssten.

Für die Experten ist klar, dass es zu einer zweiten Welle kommen wird, wenn die Leute wieder draussen sind. Spürst du diese Angst auch?
Ja. Ich bin ja nicht Risikogruppe, aber ich habe Angst wegen der Wirtschaft. Bis vor kurzem durften Lieferanten ihre Ware oder das Essen nur vor das Gebäude liefern. Gestern war plötzlich wieder einer vor meiner Tür. Das war so komisch! Ich habe die Tasche ganz vorsichtig entgegen genommen und die Türe sofort zugezogen. Das nächste, was ich gemacht habe: Ich habe mir sofort die Hände gewaschen und desinfiziert. Denn es ist klar: Wenn das noch länger geht oder nochmal eine Welle kommt, dann überleben das viele Firmen nicht. Ich weiss auch nicht, ob die Privatklinik, in der ich arbeite, weiter machen könnte.

Sind die wirtschaftlichen Folgen schon jetzt spürbar?
Kollegen von mir haben ihren Job verloren. Andere arbeiten für 300 Franken Mindestlohn, damit ihre Firma überleben kann. In Shenzhen hat es ja viele Start-Ups, die brauchen Investoren. Aber welcher Investor pumpt da jetzt noch Geld rein?

Was hat diese Pandemie mit den Chinesen gemacht? Wie hat sich die Gesellschaft verändert?
Ich weiss nicht, wie lange das hält, aber vor allem die Hygiene-Standards haben sich verbessert. Auf öffentlichen WCs gab es früher keine Seife. Heute desinfizieren sich auch die Securitys die Hände, das sah man früher ebenfalls nicht. Der Hygiene-Standard ist also offensichtlich besser. Aber dass sich viel verändert hat, glaube ich eher nicht.

Ist denn schon wieder so etwas wie ein Alltag spürbar?
Die Strassen sind noch immer nicht so voll. Der Verkehr ist aber wieder zurück, eigentlich wie früher. Und es hat auch wieder Kinder auf den Strassen. Rückblickend wird es einem noch viel bewusster, wie abgekapselt und einsam man war.

Inwiefern bewusster?
Ich war fünf bis sechs Wochen eigentlich völlig alleine, nur mit meinem Hund. Nach draussen hat sich kaum jemand getraut. Als das Restaurant unten in dem Gebäudekomplex, in dem ich wohne, wieder öffnete und ich dort essen ging, war das schon ein emotionaler Moment, endlich wieder jemandem Hallo zu sagen. Und es waren die besten Dumplings, die ich in meinem ganzen Leben gegessen habe.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Spanische Grippe – die Mutter aller Pandemien
1 / 22
Spanische Grippe – die Mutter aller Pandemien
25 bis 50 Millionen Menschenleben kostete die Pandemie, die von 1918 bis 1920 auf der ganzen Welt wütete. Nicht mal der Erste Weltkrieg holte sich so viele Opfer. In absoluten Zahlen war die Spanische Grippe in etwa so verheerend wie die Pest von 1348: Der Schwarze Tod riss damals ein Drittel der europäischen Bevölkerung in den Tod. Spanisch nannte man die Grippe, weil die ersten Nachrichten über die Krankheit von dort herkamen. Im Bild: Das Militär-Notfallkrankenhaus im Camp Funston in Kansas 1918, wo das Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit erstmals ausbrach. quelle: wikimedia ... Mehr lesen
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Coronavirus – Messinas Bürgermeister will Bevölkerung mit schreiender Drohne am Ausgang hindern
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
44 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Perkon20
26.03.2020 16:14registriert Juli 2018
„Die Leute haben Angst, dass sie sich anstecken könnten. Und alle, die nicht chinesisch aussehen, sind eine potenzielle Gefahr.“ Das erinnert mich an die genau umgekehrte Situation in Europa und Amerika vor einem Monat.
4445
Melden
Zum Kommentar
avatar
TheDoctor
26.03.2020 17:30registriert November 2018
Im Podcast Sicherheitshalber zur Coronapandemie wurde unter anderem kritisch diskutiert, ob Kriegsrethorik angebracht ist. Der Konsens der Politologen und Sicherheitsexperten sehen das sehr problematisch. Ich auch. Es ist kein Krieg, sondern eine Pandemie.
2207
Melden
Zum Kommentar
avatar
Barthummel
26.03.2020 18:02registriert April 2019
"Nein, Krieg ist anders!"

Das waren die ruhigen und mit ernstem Blick gesagten Worte einer Kassierin mit Migrationshintergrund, als eine Kundin an der Kasse lächelnd diesen Vergleich brachte.

Also hört bitte auf mit diesem reisserischen Titeln, auch wenn es im Kontext des Interviews so gesagt wurde.
1135
Melden
Zum Kommentar
44
Krebskranker König Charles sendet Audiobotschaft zu Ostern

Grossbritanniens König Charles III. (75) hat zum bevorstehenden Osterfest an die Bedeutung gegenseitiger Hilfe erinnert. Der Monarch schickte zum traditionellen Gottesdienst Royal Maundy an Gründonnerstag eine Audiobotschaft, sollte aber wegen seiner Krebserkrankung nicht selbst teilnehmen. Auch Charles' Schwiegertochter Prinzessin Kate (42) wird derzeit wegen einer Krebsdiagnose behandelt.

Zur Story