Frau Cherevko, Sie leben und arbeiten seit über einem Jahr in Gaza. Wie würden Sie die aktuelle Lage vor Ort beschreiben?
Olga Cherevko: Verzweifelt. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung sind inzwischen quasi vollständig zusammengebrochen. Die zivile Infrastruktur und alle lebenswichtigen Systeme – darunter die Gesundheits-, Wasser- und Abwasserversorgung – sind beinahe komplett zerstört. Und auch das Bildungssystem funktioniert nicht mehr.
Die israelische Regierung hat im August beschlossen, Gaza-Stadt einzunehmen, und sie hat Teile der Bevölkerung bereits dazu aufgerufen, das Gebiet zu verlassen. Leisten die Menschen in Gaza-Stadt dieser Anweisung Folge?
Die Menschen haben natürlich grosse Angst. Wir sprechen hier von fast einer Million Menschen, die vom Norden in den Süden verlegt werden sollen. Das würde auch die humanitäre Infrastruktur im Süden Gazas massiv belasten. Denn die bewohnbaren Gebiete im Süden sind bereits jetzt komplett überfüllt. Viele sind bereits geflohen. Aber längst nicht alle haben die Mittel oder die Kraft, Gaza-Stadt zu verlassen. Ich habe auch von Menschen gehört, die die Stadt nicht verlassen wollen. Sie wurden schon so oft vertrieben. Einige sagen, dass ihnen mittlerweile egal ist, ob sie leben oder sterben.
Gibt es in Gaza noch irgendeinen Ort, an dem normales Leben stattfindet?
Nein. Der Krieg trifft jede Person im Gazastreifen. Fast alle sind im Verlauf der vergangenen zwei Jahre vertrieben worden. Einige sind so oft geflohen, dass sie aufgehört haben zu zählen. Vielleicht gibt es kleinere Häusergruppen, die weniger stark zerstört worden sind, aber wahrscheinlich gibt es nicht ein einziges Haus in Gaza, das überhaupt nicht vom Krieg beschädigt wurde. Nur etwa 14 Prozent des Gazastreifens unterliegen zurzeit keinen Umsiedlungsbefehlen oder liegen nicht in militarisierten Gebieten. Diese Orte sind darum extrem überfüllt. Krankheiten verbreiten sich schnell, weil die Menschen auf so engem Raum zusammenleben müssen.
Wie sieht der Alltag in Gaza aktuell aus?
Viele Leute können nicht mehr arbeiten. Wenn die Menschen Ersparnisse hatten, sind diese aufgebraucht. Die Preise sind in den vergangenen zwei Jahren exorbitant gestiegen. Das tägliche Leben sieht ungefähr so aus: Wenn eine Familie am Morgen aufwacht, verteilt sie Aufgaben – eine Person sucht Essen, eine andere Wasser, eine weitere geht vielleicht ins Krankenhaus. Die Menschen sind im Überlebensmodus. Sie leben unter ständiger Bombardierung, haben Familienmitglieder verloren und versuchen, es bis zum nächsten Tag zu schaffen. Eine junge Frau sagte mir, dass sie grosse Träume gehabt habe, sie wollte Übersetzerin werden. Jetzt träumt sie nur noch davon, zu überleben.
Gemäss UNOSAT-Satellitenbilder-Auswertungen sind über 70 Prozent der Häuser im Gazastreifen zerstört oder beschädigt. Wie leben die Menschen inmitten dieser Zerstörung?
Einige Familien sind wieder dorthin zurückgegangen, wo ihr Zuhause einmal stand, und leben zwischen den Trümmern ihrer Häuser. Einige bauen Zelte darauf auf, wenn sie denn eines besitzen, andere basteln sich ein Obdach aus Tüchern oder Plastikplanen. Ich habe auch Familien gesehen, bei denen die Männer draussen schlafen und die Frauen in Zelten. Es gibt auch jene, die gar nichts mehr besitzen und auf der Strasse schlafen.
Im Gebiet um Gaza-Stadt herrscht eine Hungersnot, andere Regionen in Gaza stehen kurz davor, wie das Welternährungsprogramm (WFP) vermeldet. Wie gelangen die Menschen in Gaza noch an Essen?
Die Menschen verhungern. Zwar gelangen wieder Nahrungsmittel nach Gaza, aber deutlich zu wenig, um die Menschen zu versorgen. Hilfsorganisationen betreiben ein paar Dutzend Gemeindeküchen, wo sie einige Hunderttausend Mahlzeiten pro Tag verteilen. In Gaza leben aber über zwei Millionen Menschen. Die Verteilung von Hilfsgütern ist stark erschwert, weil nicht genügend Güter nach Gaza hineinkommen. Und wir sind mit massiven Einschränkungen konfrontiert, wenn es darum geht, die Hilfe zu den Menschen zu bringen.
Wie genau wird die Verteilung eingeschränkt?
Wir müssen jede Bewegung mit den israelischen Behörden absprechen. Wenn ich die Hilfsgüter am Grenzübergang abhole, muss ich einen Tag im Voraus eine Bewilligung bei ihnen einholen. Wird diese erteilt, muss man auf dem Weg zum Grenzübergang mehrfach die israelischen Behörden anrufen, damit man sich weiter fortbewegen kann. Parallel dazu laufen militärische Operationen. Dazu kommt, dass die Routen, die wir nutzen müssen, stark überlastet und oftmals zerstört sind. Für eine Strecke von 40 Kilometern benötigen wir oft 20 Stunden oder mehr. Manchmal müssen wir auch umkehren, wenn es zu gefährlich oder die Strasse unpassierbar ist.
In Medienberichten sind immer wieder Bilder von Lastwagen mit Hilfsgütern zu sehen, die sich vor dem Grenzübergang stauen, die Bevölkerung in Gaza aber nicht erreichen. Was ist der Grund dafür?
Das israelische Militär überprüft die Lastwagen mit Hilfsgütern mehrfach und an verschiedenen Orten. Dabei kommt es oft zu Stau. Dazu kommen Verzögerungen am Zoll – und nur eine Handvoll NGOs darf überhaupt Hilfsgüter nach Gaza bringen.
Wenn die Hilfsgüter in Gaza sind: Wie gelangen sie zu den Menschen?
Vor der mehrmonatigen Blockade der Hilfslieferungen dieses Jahr haben wir im Gazastreifen Hunderte gemeinschaftlich verwaltete Verteilstationen betrieben. Dort haben wir alles Lebensnotwendige angeboten: Wasser, medizinische Versorgung und Essen. Seitdem die Hilfsgüter-Blockade wieder aufgehoben worden ist, konnten wir diese Verteilstationen noch nicht wiederaufnehmen, weil uns nur wenig Hilfsgüter erreichen. Es kommt ausserdem oft vor, dass verzweifelte Menschen die Hilfsgüter direkt von den Lastwagen abladen. Wir bieten aber weiterhin Hilfe an, soweit dies möglich ist, darunter Wasser, Lebensmittel, Gesundheitsversorgung und Bildung. Es reicht aber bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken.
Es gibt diverse Berichte von tödlichen Schüssen im Kontext von Hilfsgüterverteilungen. Ende Juli etwa sollen israelische Militärangehörige über 80 Menschen erschossen haben, die Lebensmittel von einem Hilfskonvoi luden. Was können Sie dazu sagen?
Es geschieht tatsächlich regelmässig, dass auf Menschen an Verteilstationen oder entlang der Routen der UN-Konvois geschossen wird. Niemand sollte sein Leben riskieren müssen, um Nahrung zu finden. Zivilistinnen und Zivilisten müssen immer geschützt werden.
Wie viele Menschen in Gaza sind von humanitärer Hilfe abhängig?
Ich habe noch nie zuvor in einem Krisengebiet gearbeitet, in dem 100 Prozent der Bevölkerung humanitäre Hilfe braucht. In Gaza ist das der Fall.
Gibt es für die Menschen in Gaza eine Möglichkeit, den Gazastreifen zu verlassen?
Die Menschen dürfen nicht ausreisen. Es gibt aber Patientinnen und Patienten, die für medizinische Behandlungen evakuiert werden. Aktuell warten 14’000 Menschen darauf, evakuiert zu werden. Das ist jedoch ein langwieriger Prozess.
Wie wirkt sich der Krieg auf den sozialen Zusammenhalt in Gaza aus?
Das soziale Gefüge ist über die vergangenen Monate zutiefst erschüttert worden. Wie gesagt, es ist ein Kampf ums Überleben. Die Menschen stehen unter Stress. Wir beobachten auch eine allgemeine Zunahme von Gewaltereignissen und einen Anstieg der Gewalt gegen Frauen.
Mehrere Staaten haben Palästina in den vergangenen Monaten als Staat anerkannt, zuletzt Belgien. Werden diese Entscheide in Gaza diskutiert?
Ja, die ganze Zeit. Die Leute sind auf dem neuesten Stand und tauschen sich darüber aus, wie sich die internationale Politik entwickelt. Ich glaube, das politische Leben stirbt nicht, egal, wie lange ein Krieg andauert.
Wie können sich die Menschen in Gaza zurzeit informieren?
So wie die Menschen auf der ganzen Welt sonst auch: über die Nachrichten, Gespräche mit anderen, Radio oder übers Internet.
Führende Genozidforschende haben kürzlich in einer Resolution festgehalten, dass sie die Kriterien für einen Völkermord in Gaza durch Israel erfüllt sehen. Wie wird dies innerhalb von Gaza aufgenommen?
Diesen Entscheid müssen internationale Gerichte fällen. Aber es ist wie bei einer Hungersnot: Wird sie festgestellt, ist es bereits zu spät. Klar ist: Politisch wird nicht genug getan, um die Gewalt zu beenden. Dafür braucht es einen dauerhaften Waffenstillstand, die sofortige und bedingungslose Freilassung aller Geiseln sowie willkürlich Inhaftierten und einen dauerhaften, sicheren und uneingeschränkten Zugang zum Gazastreifen.
Was würden Sie Menschen in der Schweiz raten, die der Bevölkerung in Gaza helfen wollen?
Ich denke, das Wichtigste ist, dass Gaza nicht vergessen wird. Ich stelle fest, dass nach fast zwei Jahren Krieg bei einigen bereits eine Taubheit gegenüber den schrecklichen Bildern aus Gaza eingesetzt hat. Dieses Leiden darf uns nicht gleichgültig werden. Die Menschen in Gaza brauchen kein Mitleid. Sie brauchen Unterstützung und eine dauerhafte Waffenruhe.
Die Menschen sind doch selber Schuld, weil sie die Hamas gewählt hatten…das ist doch alles nur Propaganda…usw.