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Interview

Überlebenskampf in Gaza: So sieht der Alltag im Krieg aus

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Zelte zwischen den Trümmern – die Al-Rashid-Strasse im Westen von Gaza-Stadt am 2. September 2025. Bild: keystone
Interview

«Ich war noch nie in einem Krisengebiet, in dem 100 Prozent der Bevölkerung Hilfe braucht»

Der Krieg in Gaza dauert bald zwei Jahre. Eine UNO-Mitarbeiterin erzählt vom Alltag im Gazastreifen, von der humanitären Lage, und sie erklärt, was Menschen in der Schweiz tun können.
04.09.2025, 19:5705.09.2025, 00:10
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Frau Cherevko, Sie leben und arbeiten seit über einem Jahr in Gaza. Wie würden Sie die aktuelle Lage vor Ort beschreiben?
Olga Cherevko: Verzweifelt. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung sind inzwischen quasi vollständig zusammengebrochen. Die zivile Infrastruktur und alle lebenswichtigen Systeme – darunter die Gesundheits-, Wasser- und Abwasserversorgung – sind beinahe komplett zerstört. Und auch das Bildungssystem funktioniert nicht mehr.

Die israelische Regierung hat im August beschlossen, Gaza-Stadt einzunehmen, und sie hat Teile der Bevölkerung bereits dazu aufgerufen, das Gebiet zu verlassen. Leisten die Menschen in Gaza-Stadt dieser Anweisung Folge?
Die Menschen haben natürlich grosse Angst. Wir sprechen hier von fast einer Million Menschen, die vom Norden in den Süden verlegt werden sollen. Das würde auch die humanitäre Infrastruktur im Süden Gazas massiv belasten. Denn die bewohnbaren Gebiete im Süden sind bereits jetzt komplett überfüllt. Viele sind bereits geflohen. Aber längst nicht alle haben die Mittel oder die Kraft, Gaza-Stadt zu verlassen. Ich habe auch von Menschen gehört, die die Stadt nicht verlassen wollen. Sie wurden schon so oft vertrieben. Einige sagen, dass ihnen mittlerweile egal ist, ob sie leben oder sterben.

Zur Person
Olga Cherevko ist Sprecherin für das Büro des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) in Gaza. Sie hat insgesamt fünf Jahre in Gaza verbracht und ist seit Anfang 2024 wieder vor Ort. Das Interview fand online statt, während sich Cherevko kurzzeitig in Grossbritannien aufhielt.
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Bild: zvg

Gibt es in Gaza noch irgendeinen Ort, an dem normales Leben stattfindet?
Nein. Der Krieg trifft jede Person im Gazastreifen. Fast alle sind im Verlauf der vergangenen zwei Jahre vertrieben worden. Einige sind so oft geflohen, dass sie aufgehört haben zu zählen. Vielleicht gibt es kleinere Häusergruppen, die weniger stark zerstört worden sind, aber wahrscheinlich gibt es nicht ein einziges Haus in Gaza, das überhaupt nicht vom Krieg beschädigt wurde. Nur etwa 14 Prozent des Gazastreifens unterliegen zurzeit keinen Umsiedlungsbefehlen oder liegen nicht in militarisierten Gebieten. Diese Orte sind darum extrem überfüllt. Krankheiten verbreiten sich schnell, weil die Menschen auf so engem Raum zusammenleben müssen.

Wie sieht der Alltag in Gaza aktuell aus?
Viele Leute können nicht mehr arbeiten. Wenn die Menschen Ersparnisse hatten, sind diese aufgebraucht. Die Preise sind in den vergangenen zwei Jahren exorbitant gestiegen. Das tägliche Leben sieht ungefähr so aus: Wenn eine Familie am Morgen aufwacht, verteilt sie Aufgaben – eine Person sucht Essen, eine andere Wasser, eine weitere geht vielleicht ins Krankenhaus. Die Menschen sind im Überlebensmodus. Sie leben unter ständiger Bombardierung, haben Familienmitglieder verloren und versuchen, es bis zum nächsten Tag zu schaffen. Eine junge Frau sagte mir, dass sie grosse Träume gehabt habe, sie wollte Übersetzerin werden. Jetzt träumt sie nur noch davon, zu überleben.

«Die Menschen sind im Überlebensmodus.»

Gemäss UNOSAT-Satellitenbilder-Auswertungen sind über 70 Prozent der Häuser im Gazastreifen zerstört oder beschädigt. Wie leben die Menschen inmitten dieser Zerstörung?
Einige Familien sind wieder dorthin zurückgegangen, wo ihr Zuhause einmal stand, und leben zwischen den Trümmern ihrer Häuser. Einige bauen Zelte darauf auf, wenn sie denn eines besitzen, andere basteln sich ein Obdach aus Tüchern oder Plastikplanen. Ich habe auch Familien gesehen, bei denen die Männer draussen schlafen und die Frauen in Zelten. Es gibt auch jene, die gar nichts mehr besitzen und auf der Strasse schlafen.

Im Gebiet um Gaza-Stadt herrscht eine Hungersnot, andere Regionen in Gaza stehen kurz davor, wie das Welternährungsprogramm (WFP) vermeldet. Wie gelangen die Menschen in Gaza noch an Essen?
Die Menschen verhungern. Zwar gelangen wieder Nahrungsmittel nach Gaza, aber deutlich zu wenig, um die Menschen zu versorgen. Hilfsorganisationen betreiben ein paar Dutzend Gemeindeküchen, wo sie einige Hunderttausend Mahlzeiten pro Tag verteilen. In Gaza leben aber über zwei Millionen Menschen. Die Verteilung von Hilfsgütern ist stark erschwert, weil nicht genügend Güter nach Gaza hineinkommen. Und wir sind mit massiven Einschränkungen konfrontiert, wenn es darum geht, die Hilfe zu den Menschen zu bringen.

«Wir müssen jede Bewegung mit den israelischen Behörden absprechen.»

Wie genau wird die Verteilung eingeschränkt?
Wir müssen jede Bewegung mit den israelischen Behörden absprechen. Wenn ich die Hilfsgüter am Grenzübergang abhole, muss ich einen Tag im Voraus eine Bewilligung bei ihnen einholen. Wird diese erteilt, muss man auf dem Weg zum Grenzübergang mehrfach die israelischen Behörden anrufen, damit man sich weiter fortbewegen kann. Parallel dazu laufen militärische Operationen. Dazu kommt, dass die Routen, die wir nutzen müssen, stark überlastet und oftmals zerstört sind. Für eine Strecke von 40 Kilometern benötigen wir oft 20 Stunden oder mehr. Manchmal müssen wir auch umkehren, wenn es zu gefährlich oder die Strasse unpassierbar ist.

Krieg in Gaza
Auslöser des aktuellen Krieges in Gaza war der Terrorüberfall der Hamas und anderer islamistischer Gruppen am 7. Oktober 2023 in Israel, bei dem rund 1200 Menschen getötet und mehr als 250 weitere in den angrenzenden Gazastreifen verschleppt worden waren. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden seit dem 7. Oktober 2023 mehr als 63'600 Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen getötet. Bei einem Grossteil der Todesopfer handelt es sich um Zivilistinnen und Zivilisten, wie zum Beispiel eine Studie von The Lancet ermittelte. Laut israelischen Angaben befinden sich noch 48 Geiseln im Gazastreifen, 20 von ihnen sollen noch am Leben sein.
(hah/sda)

In Medienberichten sind immer wieder Bilder von Lastwagen mit Hilfsgütern zu sehen, die sich vor dem Grenzübergang stauen, die Bevölkerung in Gaza aber nicht erreichen. Was ist der Grund dafür?
Das israelische Militär überprüft die Lastwagen mit Hilfsgütern mehrfach und an verschiedenen Orten. Dabei kommt es oft zu Stau. Dazu kommen Verzögerungen am Zoll – und nur eine Handvoll NGOs darf überhaupt Hilfsgüter nach Gaza bringen.

Wenn die Hilfsgüter in Gaza sind: Wie gelangen sie zu den Menschen?
Vor der mehrmonatigen Blockade der Hilfslieferungen dieses Jahr haben wir im Gazastreifen Hunderte gemeinschaftlich verwaltete Verteilstationen betrieben. Dort haben wir alles Lebensnotwendige angeboten: Wasser, medizinische Versorgung und Essen. Seitdem die Hilfsgüter-Blockade wieder aufgehoben worden ist, konnten wir diese Verteilstationen noch nicht wiederaufnehmen, weil uns nur wenig Hilfsgüter erreichen. Es kommt ausserdem oft vor, dass verzweifelte Menschen die Hilfsgüter direkt von den Lastwagen abladen. Wir bieten aber weiterhin Hilfe an, soweit dies möglich ist, darunter Wasser, Lebensmittel, Gesundheitsversorgung und Bildung. Es reicht aber bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken.

Palestinians carry sacks of flour unloaded from a humanitarian aid convoy that reached Gaza City from the northern Gaza Strip, Sunday, Aug. 24, 2025. (AP Photo/Abdel Kareem Hana)
APTOPIX Israel Palest ...
Eine Gruppe von Palästinensern transportiert im nördlichen Gazastreifen Mehlsäcke, die sie von einem humanitären Konvoi entladen hat, 24. August 2025. Bild: keystone

Es gibt diverse Berichte von tödlichen Schüssen im Kontext von Hilfsgüterverteilungen. Ende Juli etwa sollen israelische Militärangehörige über 80 Menschen erschossen haben, die Lebensmittel von einem Hilfskonvoi luden. Was können Sie dazu sagen?
Es geschieht tatsächlich regelmässig, dass auf Menschen an Verteilstationen oder entlang der Routen der UN-Konvois geschossen wird. Niemand sollte sein Leben riskieren müssen, um Nahrung zu finden. Zivilistinnen und Zivilisten müssen immer geschützt werden.

«Ich habe noch nie zuvor in einem Krisengebiet gearbeitet, in dem 100 Prozent der Bevölkerung humanitäre Hilfe braucht.»

Wie viele Menschen in Gaza sind von humanitärer Hilfe abhängig?
Ich habe noch nie zuvor in einem Krisengebiet gearbeitet, in dem 100 Prozent der Bevölkerung humanitäre Hilfe braucht. In Gaza ist das der Fall.

Gibt es für die Menschen in Gaza eine Möglichkeit, den Gazastreifen zu verlassen?
Die Menschen dürfen nicht ausreisen. Es gibt aber Patientinnen und Patienten, die für medizinische Behandlungen evakuiert werden. Aktuell warten 14’000 Menschen darauf, evakuiert zu werden. Das ist jedoch ein langwieriger Prozess.

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Ein verletztes Mädchen wurde für eine medizinische Behandlung in den Libanon evakuiert, 2. September 2025.Bild: keystone
«Das soziale Gefüge ist über die vergangenen Monate zutiefst erschüttert worden.»

Wie wirkt sich der Krieg auf den sozialen Zusammenhalt in Gaza aus?
Das soziale Gefüge ist über die vergangenen Monate zutiefst erschüttert worden. Wie gesagt, es ist ein Kampf ums Überleben. Die Menschen stehen unter Stress. Wir beobachten auch eine allgemeine Zunahme von Gewaltereignissen und einen Anstieg der Gewalt gegen Frauen.

Mehrere Staaten haben Palästina in den vergangenen Monaten als Staat anerkannt, zuletzt Belgien. Werden diese Entscheide in Gaza diskutiert?
Ja, die ganze Zeit. Die Leute sind auf dem neuesten Stand und tauschen sich darüber aus, wie sich die internationale Politik entwickelt. Ich glaube, das politische Leben stirbt nicht, egal, wie lange ein Krieg andauert.

Wie können sich die Menschen in Gaza zurzeit informieren?
So wie die Menschen auf der ganzen Welt sonst auch: über die Nachrichten, Gespräche mit anderen, Radio oder übers Internet.

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Gemäss UN-Zahlen sind ungefähr 90 Prozent der Bevölkerung Gazas seit Beginn des Krieges mindestens einmal umgesiedelt worden. Aufnahme aus Gaza-Stadt, 1. September 2025. Bild: EPA

Führende Genozidforschende haben kürzlich in einer Resolution festgehalten, dass sie die Kriterien für einen Völkermord in Gaza durch Israel erfüllt sehen. Wie wird dies innerhalb von Gaza aufgenommen?
Diesen Entscheid müssen internationale Gerichte fällen. Aber es ist wie bei einer Hungersnot: Wird sie festgestellt, ist es bereits zu spät. Klar ist: Politisch wird nicht genug getan, um die Gewalt zu beenden. Dafür braucht es einen dauerhaften Waffenstillstand, die sofortige und bedingungslose Freilassung aller Geiseln sowie willkürlich Inhaftierten und einen dauerhaften, sicheren und uneingeschränkten Zugang zum Gazastreifen.

Was würden Sie Menschen in der Schweiz raten, die der Bevölkerung in Gaza helfen wollen?
Ich denke, das Wichtigste ist, dass Gaza nicht vergessen wird. Ich stelle fest, dass nach fast zwei Jahren Krieg bei einigen bereits eine Taubheit gegenüber den schrecklichen Bildern aus Gaza eingesetzt hat. Dieses Leiden darf uns nicht gleichgültig werden. Die Menschen in Gaza brauchen kein Mitleid. Sie brauchen Unterstützung und eine dauerhafte Waffenruhe.

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74 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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HerbertBert
04.09.2025 21:04registriert Juni 2018
Israel muss endlich sanktioniert werden.
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Holzkopf
04.09.2025 21:00registriert November 2017
Es ist eigentlich gar nicht möglich sich vollständig bewusst zu sein, dass hier mehrere Millionen Menschen vor den Augen der ganzen Welt verhungern gelassen oder auf andere Weise vernichtet werden…wissentlich und willentlich in einer Art Freiluftgefängnis, in welchem sie sich gar nicht selber helfen können. Das Leid all dieser einzelnen Menschen ist so unvorstellbar, dass wir lieber zu unbewussten Strategien greifen, um die entsprechenden Gefühle abzuwehren:
Die Menschen sind doch selber Schuld, weil sie die Hamas gewählt hatten…das ist doch alles nur Propaganda…usw.
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nature
04.09.2025 21:07registriert November 2021
Auch Demokratien können Kriegsverbrechen und schlimme Menschenrechtsverletzungen begehen.
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