Herr Funke, an den Landtagswahlen am Wochenende in Deutschland hat die AfD in Sachsen 30,1 Prozent der Wählerstimmen geholt, in Thüringen 32,8 Prozent – wodurch erstmals eine rechtsradikale Partei die stärkste Kraft in einem deutschen Bundesland wird. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie diese Ergebnisse gesehen haben?
Hajo Funke: Ich war nicht erstaunt. Wahlumfragen haben bereits angedeutet, dass die AfD in diesen beiden Bundesländern stark zulegen wird. Und trotzdem bin ich auch überrascht worden von diesem Ergebnis. Im negativen Sinne. Die AfD hat ein bis zwei Prozent besser abgeschnitten, als es die Umfragen vorhergesagt haben. Ich vermute, dass das Attentat in Solingen dieses Ergebnis befeuert hat. Dieser Wahlausgang ist sehr bitter – für die beiden Bundesländer, aber vor allem für unsere Demokratie. Es zeigt, wie tief verankert die rechtsextreme Partei in den beiden Bundesländern ist.
War der Sonntag ein schwarzer Tag für die Demokratie Deutschlands?
Ich würde eher sagen, die deutsche Demokratie kommt gerade noch mit zwei blauen Augen davon. Es war von Anfang an klar, dass keine der anderen Parteien bereit ist, mit der AfD eine Koalition zu bilden. Und dem ist noch immer so, auch wenn die AfD nun stärkste Partei in Thüringen und zweitstärkste in Sachsen ist. Die anderen Parteien müssen sich jetzt zu einer Koalition zusammenschliessen, um in ihrem Bundesland zu regieren.
Und glauben Sie, das werden Sie schaffen?
Die Parteien in den beiden Bundesländern sind sehr kompromissbereit und gewillt, die Demokratie gegen die AfD zu verteidigen. Sie sind bereit, über Parteigrenzen hinweg zu politisieren. Es werden sicher keine einfachen und schnellen Koalitionsverhandlungen, aber man wird es schaffen. Davon bin ich überzeugt. Dass es überhaupt noch möglich ist, eine Koalition ohne die AfD zu bilden, ist dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zu verdanken. Das meine ich damit, dass die deutsche Demokratie mit zwei blauen Augen davongekommen ist. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat unsere Demokratie gerettet.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht, das die ehemalige Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht erst im Januar gegründet hat, hat Schlimmeres verhindert?
Ja. In Sachsen gelang dem BSW ein Stimmanteil von 11,8 Prozent, in Thüringen ein Anteil von 15,8 Prozent. Es ist damit drittstärkste Partei in den beiden Bundesländern. In Sachsen können CDU, SPD und das BSW eine Regierungskoalition bilden, in Thüringen die CDU, SPD, Linke und BSW.
Wie lässt sich der Erfolg des BSW erklären?
Das BSW hat viele Nicht-Wähler angesprochen, aber auch viele Wähler der anderen Parteien abgezogen. Es wurde von Leuten gewählt, die frustriert und unzufrieden mit den Parteien in der Bundesregierung sind, also der SPD, FDP und Grünen. Aber auch einstige enttäuschte Wähler der CDU konnte das BSW abziehen.
Hat das BSW auch Wählerinnen und Wähler der AfD ausgespannt?
Auf jeden Fall. Das BSW ist die Alternative zur Alternative, zur AfD. Nicht alle, die bisher die AfD gewählt haben, sind rechtsextrem. Viele können mit den rassistischen, völkischen und demokratiefeindlichen Forderungen der AfD nichts anfangen. Das BSW ist zwar linkspopulistisch, begründet sich aber auf Forderungen im sozialen Bereich und nach mehr Diplomatie angesichts der Kriege in der Ukraine und in Nahost. Von ihm geht keine Gefahr für unsere Demokratie aus. Darum können und müssen die anderen Parteien eine Koalition mit dem BSW anstreben. Nur so kann man der AfD Einhalt bieten.
Ist es nicht auch auf eine Weise undemokratisch, wenn man die Partei mit dem stärksten Wähleranteil nicht regieren lassen will? Oder gilt hier das Toleranz-Paradox: Eine tolerante Gesellschaft darf Intoleranz nicht tolerieren?
Hier gilt definitiv das Toleranz-Paradox. Die AfD ist demokratiefeindlich. Mit ihr eine Koalition zu bilden, weil sie die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hinter sich hat, ist nicht mit unserer Demokratie vereinbar. Sonst haben wir Zustände wie damals gegen Ende der Weimarer Republik. Damals hat man auch mit einer rechtsextremen, faschistischen Partei koaliert.
Der DAP, der Deutschen Arbeiterpartei und Vorgängerin der NSDAP, der Partei der Nationalsozialisten unter Hitler?
Genau.
Sehen Sie weitere beängstigende Parallelen zum Anfang der Nationalsozialisten?
Das Déjà-vu ist partiell. Wäre es ganz da, würde das bedeuten, dass wir uns in einer für die Demokratie äusserst gefährlichen Situation befinden. Aber es gibt Elemente, die an die Weimarer Republik erinnern. Da ist einerseits dieser Aufstieg einer der rechtsextremsten Parteien Europas und andererseits diese Mischung aus sozialer Enttäuschung und Krisenstimmung in der Bevölkerung, Überforderung in aussenpolitischen Fragen und einer in sich gespaltenen Bundesregierung, welche die Demokratie weniger glaubwürdig, weniger effizient, weniger sozial macht. Und dann natürlich die Parallelen in Thüringen. Bereits in der Weimarer Republik war Thüringen das «braunste» Bundesland. Und ab 2015 radikalisierte sich die AfD stetig. Unter anderem unter dem kräftigen Zutun von Björn Höcke, dem Thüringer AfD-Chef. Ich würde sogar sagen, dass sich in Thüringen die Demokratie entscheidet.
Obwohl keine Regierung mit der AfD denkbar ist, sind über 30 Prozent in der Landesregierung ein beachtlicher Anteil an Sitzen, die die AfD nun in den Landtagen der beiden Bundesländer haben wird. Wird das im politischen Alltag zu spüren sein?
Ja, auf jeden Fall. In den Parlamenten der Bundesländer sind für gewisse Entscheidungen Zweidrittelmehrheiten nötig, beispielsweise bei der Ernennung von Richtern. In solchen Fragen wird die AfD massgeblich entscheiden oder aber auch Lösungen blockieren können. Bei einfachen Mehrheiten hingegen nicht unbedingt.
Welche Bedeutung haben diese Landtagswahlen für den Rest Deutschlands?
Die AfD beeinflusst unsere Politik bereits jetzt stark. Sie polarisiert und vergiftet unser politisches Klima, sie setzt die Themen, über die wir diskutieren, sie schürt Hass. Und das ganz unabhängig vom jetzigen Wahlsieg in Thüringen und Sachsen.
Die Bevölkerung in Thüringen und Sachsen hat die Bundesregierung besonders abgestraft, indem sie ihre Stimme kaum den Parteien in der Ampelkoalition gegeben hat. Wie muss die Ampelkoalition das interpretieren?
Für die Bundesregierung müssten diese Landtagswahlen ein Warnsignal sein. Und zwar schon das vierte in zwölf Monaten. Bereits bei der Wahl der Bundesregierung, des Europaparlaments und als im Januar publik wurde, dass Rechtsextreme und AfD-Politiker Geheimtreffen organisierten, hätte sie reagieren müssen. Tat sie aber nicht.
Weshalb reagierte die Bundesregierung nicht?
Die Ampelkoalition ist innerlich zerstritten, ineffizient und viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie findet keine Antworten auf den Aufstieg der AfD. Und ich bezweifle leider, dass sie dies demnächst schaffen wird. Dass nur noch 20 Prozent der Bevölkerung unsere Bundesregierung als effizient einstufen, ist ein Drama. Das Problem: Die Gefahr, die von der AfD ausgeht, geht nicht einfach weg, wenn man sie ignoriert.
Was müsste die Bundesregierung Ihrer Ansicht nach unternehmen?
Die Ampelkoalition müsste sich zusammenraufen und zusammenarbeiten. Diese Arbeit müsste sich vor allem auf soziale Themen richten, sie müsste effizient sein und dürfte sich nicht von parteipolitischen Zielen ablenken lassen. Ausserdem bräuchte es ein Ende der Schuldenbremse, um wichtige und längst notwendige Investitionen in Ostdeutschland zu tätigen. Denn dort hat die AfD bis zu doppelt so viele Wähler wie in Westdeutschland.
Wie lässt sich der Erfolg der AfD in Ostdeutschland erklären?
Wie viele rechtsextreme, populistische Parteien schafft es die AfD, den Frust in der Bevölkerung aufzunehmen, in Wut umzuformen und auf einen Schuldigen zu kanalisieren. In diesem Fall auf Migranten, für deren Existenz in Deutschland die Bundesregierung verantwortlich gemacht wird. In Ostdeutschland ist der Frust besonders gross. Die Mehrheit der Ostdeutschen fühlen sich wie Bürger zweiter Klasse. Und das völlig zu Recht. Um nur einige Beispiele zu nennen: In Ostdeutschland hat die Bevölkerung weniger Kitaplätze, weniger Arbeitsplätze, weniger Ärzte, tiefere Löhne, schlechteren öffentlichen Verkehr. Kurz: Ostdeutsche haben weniger Chancen und Möglichkeiten als Westdeutsche.
Sind das Nachwehen der DDR?
Es sind vor allem Nachwehen der Wiedervereinigung. Nach dem Mauerfall 1989 haben Westdeutsche die wichtigen Positionen in der Politik, in der Wirtschaft, im Bildungswesen, in der Kultur – eigentlich überall – im Nu besetzt. Man könnte das sogar so verstehen, dass Westdeutschland Ostdeutschland erobert hat. Staatliche Institutionen der ehemaligen DDR privatisierte man, verhökerte sie willkürlich und ohne jegliche demokratische Legitimation. Innerhalb von drei Jahren verlor Ostdeutschland so einen Grossteil seiner Arbeitsplätze. Das hat Folgen bis heute für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands.
Wie sehen Sie angesichts dieser sehr komplexen Ausgangslage in die Zukunft der deutschen Demokratie?
Ich bin durchaus optimistisch. Ich glaube, dass wir unsere Demokratie verteidigen werden, dass wir Lehren aus der jetzigen Situation ziehen werden, dass ein Grossteil der deutschen Bevölkerung nicht zurück in die dunklen Zeiten will und sich dafür einsetzen wird. Aber es ist nicht zu leugnen, dass die Herausforderungen immens sind.