Zu Beginn des Krieges erhielt die Ukraine vor allem Panzerfäuste und ähnliche Waffen, um sich gegen die heranrollenden gepanzerten Fahrzeuge zu wehren. In den letzten Tagen gelangt vermehrt schweres Gerät in die Ukraine. Dieter Ruloff, emeritierter Professor für Internationale Beziehungen der Universität Zürich, hat zum Verlauf von Kriegen geforscht. Im Interview erklärt er, was die Waffenlieferungen bewirken und entwirft Szenarien, wie der Krieg weitergehen könnte.
Die Ukraine konnte den russischen Angriff auf Kiew abwenden. Welche Rolle spielten die Waffen aus dem Westen, welche die Moral?
Es war beides. Die ukrainischen Truppen zeigten eine beeindruckende Moral, gleichzeitig hatten sie die notwendigen Waffen, um den Vormarsch zu stoppen. Die panzerbrechenden Waffen, deren Bedienung man schnell erlernen kann, waren extrem wichtig. Sie wurden aus den USA, Grossbritannien und Deutschland geliefert.
Der Westen liefert nun auch schweres Gerät. Reicht das, damit die Ukraine gegen Russland bestehen kann?
Der Krieg hat sich nun in ein anderes Terrain verschoben. Vor Kiew war es praktisch unmöglich abseits der Strasse mit Panzern zu fahren. Die Russen mussten auf der Strasse bleiben, konnten kaum in Gefechtsformation vorrücken. Das ist nun im Süden und Südosten anders: Dort ist weites offenes Land. Da kommt man allein mit Panzerabwehrraketen nicht weit. Ob die gelieferten Waffen der ukrainischen Seite genügen, hängt von deren Kriegszielen ab – diese ändern sich erfahrungsgemäss mit dem Kriegsverlauf. Ich sehe zwei Möglichkeiten: eine anspruchslose und eine ambitionierte.
Wie sieht die anspruchslose Variante aus?
Sie besteht darin, Putin so viel Widerstand zu leisten, dass er in einen Waffenstillstand einwilligt, um dann über die Zukunft der Ukraine zu verhandeln. Die Ukrainer könnten sich entlang der heutigen Frontlinie eingraben und die Russen kommen lassen. Sie wären wohl in der Lage, eine grosse Zahl russischer Panzer zu zerstören. Die Signale aus dem Kreml deuten zudem darauf hin, dass Putin sich mit dem aktuellen Frontverlauf zufriedengeben könnte. Donezk und Luhansk sind weitgehend unter Kontrolle. Mit Mariupol hat er den Hafen am Asowschen Meer und die Wasserversorgung der Krim ist auch wieder hergestellt. Allerdings ist fraglich, ob die Ukrainer sich mit solch grossen Gebietsverlusten abfinden können. Die bisherigen Kriegserfolge der Ukraine machen wohl eher Appetit auf mehr.
Wie könnte der Krieg verlaufen, wenn die Ukraine die Russen ganz vertreiben will?
Das wäre dann die anspruchsvollere Variante. Wenn die Ukraine versucht, die Russen ganz zu vertreiben, käme es wohl zu schweren Panzergefechten. So etwas sah die Welt zuletzt im Zweiten Weltkrieg, und dafür hat die Ukraine noch nicht die notwendigen schweren Waffen. Zudem sieht es im Moment auch nicht so aus, als würde sich Putin auf so etwas einlassen. Mit der Idee eines «Blitzkrieges» zur Einnahme von Kiew hat Putin im Februar und März sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Ganz offensichtlich haben die Russen sehr viel Material und Personal, aber das muss auch erst einmal vor Ort ankommen. Und die Leute sind von der Moral wohl auch nicht sehr zuverlässig. Einer grossen Panzerschlacht geht man darum wohl eher aus dem Weg. Ich halte es für möglich, dass Putin den Krieg bald beenden will. Jetzt kann er noch einen «Sieg» über die Ukraine erklären. Kommt es zu einer grossen Schlacht mit einer immer besser ausgerüsteten ukrainischen Armee, verschwindet diese Möglichkeit.
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Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Putin hat zuletzt deeskaliert und den Sturm des Stahlwerks in Mariupol öffentlich abgeblasen. Er will kein weiteres grosses Drama. Es könnte sein, dass er den 9. Mai im Visier hat. Zum Jahrestag des Triumphs über Nazi-Deutschland könnte er den Sieg verkünden: «Mission Accomplished». Er bestimmt das Narrativ in Russland schlicht durch die brutale Kontrolle sämtlicher Medien und kann behaupten: «Wir haben nun, was wir wollten». Von der Auswechslung der angeblich faschistischen Regierung in Kiew ist schon länger nicht mehr die Rede.
Würde die Ukraine darauf eingehen?
Mit dem Verlust der Ostukraine kann Selenski nicht zufrieden sein. Es wird der Ukraine aber nicht gelingen, jeden russischen Soldaten vom eigenen Territorium zu vertreiben. Vielleicht wird Selenski versuchen Mariupol zurückzubekommen. Das dürfte aber sehr schwierig werden. Zudem muss man sehen: Es gibt genug Stimmen im Westen, die heilfroh wären, wenn die Ukraine die Gebietsverluste akzeptiert und der Krieg beendet wird.
Russland drohte den USA wegen Waffenlieferungen mit «unabsehbaren Konsequenzen». Besteht die Gefahr, dass der Konflikt eskaliert, weil Nato-Staaten schwere Waffen liefern?
Das glaube ich nicht. Die Nato geht sehr vorsichtig vor. Kein Nato-Land wird unter der eigenen Fahne in der Ukraine tätig werden. Sollten zum Beispiel die Polen gegen Russland zu offensiv werden, wird die Nato sie zurückpfeifen. Die Russen versuchen mit Drohgebärden zu verhindern, dass die Ukraine Waffen bekommt. Aber einen Krieg mit der Nato kann sich Putin nicht leisten. Der bisherige Kriegsverlauf hat gezeigt, dass seine Armee in einem pitoyablen Zustand ist. Zum Ende des Kalten Krieges hiess es einmal, Russland sei ein Entwicklungsland mit Atombomben. Nun zeigt sich: Da ist was dran.
Aber eben: «mit Atombomben». Könnte es zu einer nuklearen Eskalation kommen?
Ob und wie nukleare Waffen eingesetzt werden, ist kaum vorauszusagen. Wenn die Ukrainer Panzer in Hülle und Fülle bekämen, könnten die russischen Generäle womöglich auf die Idee kommen, taktische Atombomben einzusetzen. Damit würden sie aber die nukleare Schwelle überschreiten und die Nato würde dann nicht einfach zusehen. Dann gibt es noch die strategischen Nuklearwaffen. Es ist sicher kein Zufall, dass Russland gerade diese Woche eine Interkontinentalrakete testete. Trotzdem halte ich die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas eingesetzt wird, für extrem gering.
Was würde passieren, wenn es zu einem Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine kommt?
Nach einem solchen wird es natürlich keine rasche Rückkehr zur Normalität geben, weder in der Ukraine noch in Russland und leider auch nicht im sogenannten «Westen». Die angerichteten Schäden zu beseitigen wird viele Jahre dauern, einschliesslich eines Rückbaus der westlichen Sanktionen. Deren Wirkungen werden zunehmend für Russland zu einem grossen Problem. Noch praktiziert die grosse Mehrheit der Russen eine Art bedingungslosen Patriotismus nach dem Motto «my country, right or wrong». Aber auch der wird sich sehr rasch abnutzen, wenn in Moskau wieder Alltag einkehrt. Dann könnte es eng werden für Putin und seine Entourage. (aargauerzeitung.ch)