Dichter Nebel hängt am Sonntagabend über der Provinz Ost-Aserbaidschan im Norden des Iran. Der Staatspräsident Ebrahim Raisi, Aussenminister Hussein Amirabdollahian und ihre Delegation sind mit einem Helikopter auf dem Rückweg von einem Staatsbesuch im Nachbarland Aserbaidschan. Dann verschwindet die Maschine vom Radar und stürzt aus bisher ungeklärter Ursache ab. Keiner der insgesamt neun Insassen überlebt.
Angesichts der ohnehin angespannten Lage im Nahen Osten und der bedeutenden Rolle des Iran in der Krise blicken Beobachter gespannt auf die möglichen Folgen des Tods von Raisi und seines Aussenministers. Wie kaum ein anderer Akteur stand Raisi für das brutale islamische Regime in Teheran. In seiner relativ kurzen Amtszeit ab 2021 hat das Land schwere Krisen durchlebt, Raisi regierte mit harter Hand.
Der Nahostexperte Daniel Gerlach sagt im Gespräch mit t-online, dass sich der Iran schon seit Jahren im «Dauerkrisenmodus» befinde. «Mit dem Tod des Präsidenten kommt nun eine weitere hinzu», erklärt Gerlach. Wie also geht das Regime mit dem Tod des nach Ajatollah Chamenei zweitmächtigsten Mannes um? Stürzt der Iran vollends ins Chaos?
Gerlach hält das für unwahrscheinlich. «Das System und die Bürokratie des Regimes sind zudem darauf ausgelegt, mit solchen Krisen umzugehen», sagt er.
Stattdessen könnte nun Vizepräsident Mohammed Mochber seine Chance nutzen, mutmasst Gerlach. «Die Frage bleibt: Ist er in der Lage, Verantwortung zu übernehmen?» Bisher gelte Mochber nämlich eher als unscheinbarer Politiker, im Iran selbst habe er kaum politisches Profil. Anders jedoch auf der internationalen Bühne: «In Sicherheitskreisen aber ist er durchaus als Mann bekannt, der sich mit strategischen Fragen beschäftigt: etwa Russland und Rüstungsthemen», sagt der Nahostexperte.
Mochber ist laut Protokoll der Nachfolger Raisis im Amt des Präsidenten. Binnen 50 Tagen müssen Neuwahlen angesetzt werden, solange übernimmt der bisherige Vizepräsident das Amt kommissarisch. Mochber könnte nun versuchen, diese Zeit zu nutzen, um sich innenpolitisch ein Profil zuzulegen und bekannter zu werden, erklärt Gerlach.
Andererseits sei er mit der Organisation der Wahl befasst, was einer Kandidatur im Wege stehen könnte, so Gerlach. Vizeaussenminister Ali Bagheri, der zuletzt eine führende Rolle als Unterhändler bei den Atomverhandlungen mit dem Westen hatte, übernimmt zunächst das Aussenministeramt.
Auch innenpolitisch werde Raisis Tod kaum in einem grösseren Wandel resultieren, sagt der Experte. «Das Regime ist vollkommen auf den Machterhalt nach innen ausgerichtet», so Gerlach. Neuerliche Proteste sind zunächst ebenfalls eher unwahrscheinlich:
Nach seiner Wahl im Juni 2021 hatte Raisi angekündigt, den Kampf gegen Armut und Korruption ins Zentrum seiner Politik zu rücken. Es folgten Jahre starker interner und internationaler Proteste und Spannungen. Besonders die Aufstände nach dem Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini brachten das Regime in Bedrängnis. Raisi liess die Sicherheitskräfte mit harter Hand gegen die Protestierenden vorgehen, viele starben, Zehntausende wurden verhaftet.
Das Machtgefüge in der Region werde der Tod Raisis jedoch nicht grundlegend verändern, meint Gerlach. «Revolutionsführer Chamenei ist weiter am Leben und sein Wort hat auch in der Aussenpolitik Gewicht.» Auch der noch nicht benannte Nachfolger im Amt des Aussenministers werde die bisherige Aussenpolitik voraussichtlich fortführen.
Diese hatte sich zuletzt vor allem durch eine Annäherung an Russland und an China ausgezeichnet. Der Iran unterstützt Russland im Krieg in der Ukraine mit Waffenlieferungen. Moskaus Truppen haben bereits Kamikazedrohnen iranischer Bauart erhalten. Berichten zufolge soll Teheran auch Raketen geliefert haben. Russland, China und den Iran verbindet vor allem eines: die Ablehnung des Westens.
Eine gewichtige Rolle bei dieser Annäherung – vor allem an Russland – hatte auch Ebrahim Raisi gespielt, sein kommissarischer Nachfolger Mochber hat ebenfalls gute Kontakte nach Moskau. Nahostexperte Gerlach weist zudem darauf hin, dass der russische Präsident Wladimir Putin einer der ersten internationalen Politiker mit Gewicht gewesen sei, der zum Tode Raisis kondoliert hat. Putin bezeichnete Raisi in seiner Mitteilung als «wahren Freund Russlands». «Daher kann man davon ausgehen, dass der Iran seine Beziehungen zu Russland stärken wird», sagt Gerlach.
Das Regime wird seine politische Stossrichtung nun also kaum über den Haufen werfen. Der Tod des Präsidenten wird dennoch nicht spurlos am iranischen System vorübergehen. «Raisi war das Gesicht des Regimes», sagt Gerlach. Zudem habe er als möglicher Kandidat für die Nachfolge Chameneis als Revolutionsführer gegolten.
Ajatollah Chamenei ist selbst bereits 85 Jahre alt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass sich das Regime bereits mit seiner Nachfolge beschäftigt. «Wer nun in der Reihe der potenziellen Nachfolger des Revolutionsführers und Obersten Rechtsgelehrten nach oben rutscht, ist möglicherweise viel wichtiger als die Nachfolge im Präsidentenamt», erklärt Gerlach.
Hoch gehandelt werde dabei derzeit vor allem Chameneis Sohn Mojtaba, «doch diese Wahl würde grosse Kritik auslösen», sagt Gerlach. «Erstens gilt er als jemand, der sich im System bereichert hat.» Zudem würden manche Iraner darin eine Rückkehr zu einer dynastischen Erbfolge wie zu Zeiten des Schahs sehen.