Er bewegt sich doch. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, gemeinhin beratungsresistent, hat am Freitag auf scharfe amerikanische Kritik reagiert und einige Kurskorrekturen im Kampf gegen die Hamas vorgenommen. So gab das Kriegskabinett in Jerusalem die Öffnung des Hafens von Aschdod und des Grenzübergangs Erez bekannt, damit die Zivilbevölkerung im Gazastreifen besser mit Nahrungsmitteln versorgt werden kann.
Auch verkündeten die israelischen Streitkräfte IDF die Entlassung von zwei Offizieren, die Teil des tödlichen Luftangriffes auf einen Hilfskonvoi der gemeinnützigen Organisation «World Central Kitchen» in der vergangenen Woche gewesen waren. Ein IDF-Sprecher nannte die Attacke eine «Tragödie» und sagte: «Es hätte nicht passieren dürfen.»
Diese gezielte Attacke auf internationale Helfer, bei der zu Wochenbeginn sieben Helfer starben, scheint in Washington das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Das hat auch damit zu tun, dass «World Central Kitchen»-Gründer José Andrés in der amerikanischen Hauptstadt gut vernetzt ist - der Spitzenkoch, dessen Hilfswerk oft zur Stelle ist, wenn in einem Krisengebiet hungernde Menschen ernährt werden müssen, besitzt in Washington viele einflussreiche Freunde.
Biden griff deshalb am Donnerstag zum Telefon, um Netanjahu die Leviten zu lesen. Einen «Come to Jesus»-Moment hatte der Präsident angekündigt, obwohl diese Redensart für ein Gespräch zwischen einem Katholiken (Biden) und einem Juden (Netanjahu) unpassend wirkt. Glaubt man den durchgesickerten Erzählungen, verlief die 30 Minuten dauernden Konversation in einem höchst angespannten Umfeld.
So bezeichnete Biden die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen als «inakzeptabel». Auch drohte er mit einem Kurswechsel der amerikanischen Politik gegenüber Israel, sollte Netanjahu keine «spezifischen, konkreten und messbaren Schritte» unternehmen, um die Lebensbedingungen der unschuldigen Palästinenserinnen und Palästinenser zu verbessern.
Dazu gehört vor allem eine Aufstockung der Lebensmittellieferungen. Vor dem Hamas-Angriff auf israelische Zivilisten am 7. Oktober 2023 wurde die Bevölkerung des Gazastreifens mit rund 500 Lastwagenlieferungen pro Tag versorgt. Aktuell beläuft sich diese Zahl auf täglich rund 115 Lastwagenlieferungen – obwohl wichtige westliche Verbündete Israels schon lange versuchen, die Hilfslieferungen zu erhöhen. «Die Frustration wächst», sagte dazu, höchst undiplomatisch, ein Sprecher des Weissen Hauses.
Netanjahu wurde am Donnerstag auch von Donald Trump kritisiert, dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten. In einem Radio-Interview weigerte sich Trump die Frage des Moderators zu beantworten, ob er immer noch «100 Prozent» hinter Israel stehe. Vielmehr sagte er: Er sei sich nicht sicher, ob er die Art und Weise liebe, wie Netanjahu gegen Hamas vorgehe. «Israel ist dabei, den PR-Krieg völlig zu verlieren», sagte Trump - eine ätzende Kritik aus dem Mund eines Mannes, der jeden Tag viel Zeit vor Fernsehgeräten verbringt.
Nun fällt es bei Trump immer schwer, das Politische vom Persönlichen zu trennen. Angeblich ist der Republikaner immer noch wütend auf Netanjahu, weil Israels Ministerpräsident zu den ersten Gratulanten Bidens gehörte, nachdem der Demokrat in der Präsidentenwahl 2020 Trump besiegt hatte. Sollte Trump zu Beginn des kommenden Jahres ins Weisse Haus zurückkehren, würde seine Regierung höchstwahrscheinlich die Israel-Politik fortsetzen, die seine Amtszeit von 2017 bis 2021 geprägt hatte. Netanjahu hatte weitgehend freie Hand.
In den Augen vieler Konservativer in Washington ist dies die einzig richtige Politik gegenüber dem Verbündeten in Jerusalem. Sie kritisieren Biden dafür, dass er angeblich dem linken Flügel seiner Partei hörig sei, der schon lange einen Waffenstillstand im Gazastreifen fordert – obwohl der Demokrat im Weissen Haus doch ein Zionist der alten Schule ist. So schrieben die Kommentatoren des «Wall Street Journal» am Freitag: «Biden nutzt einen tragischen israelischen Fehler aus.»
Wahr an dieser Unterstellung ist: In sieben Monaten steht in den USA die nächste Präsidentenwahl an. Und Biden befindet sich in einer höchst unbequemen Lage, weil zur Koalition seiner Demokratischen Partei sowohl zahlreiche jüdische Wählerinnen und Wähler als auch viele Muslime gehören. Letztere stören mit einer gewissen Regelmässigkeit die Wahlkampfauftritte Bidens und werfen ihm vor, zumindest indirekt für die angeblich mehr als 30'000 toten Zivilisten im Gazastreifen verantwortlich zu sein.
Das Weisse Haus bekräftigte am Donnerstag, dass die USA den Kampf gegen Hamas weiter unterstützen. So genehmigte die amerikanische Regierung diese Woche neue Waffenlieferungen an Israel. Aber die Zweifel an Netanjahu wachsen. Und bereits zeichnet sich der nächste grosse Streit ab: der geplante israelische Einmarsch in die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens - dem angeblich letzten Hindernis auf dem Weg zum Sieg der Israelis über Hamas. (aargauerzeitung.ch)