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Israel: Die Hölle im Gaza-Streifen ist zurück.

Palestinians evacuate wounded in Israeli bombardment Rafah, Gaza Strip, Friday, Dec. 1, 2023. (AP Photo/Hatem Ali)
Ein verletztes Kind wird nach einem Angriff der Israelis im Gaza-Streifen zur Ambulanz gebracht.Bild: keystone

Die Hölle im Gaza-Streifen ist zurück

Die Feuerpause im Gazastreifen ist zu Ende. Wie geht es jetzt weiter? Ein Überblick.
01.12.2023, 19:55
Tom Schmidtgen / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Nur wenige Stunden vor dem Ende der Waffenruhe am Freitagmorgen entliess die radikalislamische Terrororganisation Hamas noch einmal sechs Geiseln – die siebte Gruppe von Entführten vom 7. Oktober, die freigelassen wurde. Eine Woche hielt die Feuerpause, seitdem fliegen wieder Raketen aus dem Gazastreifen in Richtung Israel. Das israelische Militär verteidigt sich, beschiesst wiederum Stellungen der Hamas im Gazastreifen. Seit den frühen Morgenstunden geht der Krieg also weiter.

Was heisst das Ende der Feuerpause für die verbliebenen Geiseln? Wie geht die israelische Armee nun vor? t-online gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie geht es mit der Bodenoffensive in Gaza weiter?

Die Hamas hat die Feuerpause offenbar etwa eine Stunde vor Ablaufen der Frist verletzt. Israel meldet, in den frühen Morgenstunden Raketen aus dem Gazastreifen abgefangen zu haben. Seitdem gibt es wieder Kämpfe. Die Hamas sei ihrer Verpflichtung, «alle weiblichen Geiseln freizulassen, heute nicht nachgekommen und hat Raketen auf israelische Bürger abgefeuert», hiess es aus dem Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.

Offenbar gibt es schwere Kämpfe in Gaza-Stadt und weiteren Gebieten im Norden des Gazastreifens, meldet der arabische Fernsehsender Al Jazeera unter Berufung auf Augenzeugen. Nahe des Flüchtlingslagers Nuseirat und Bureidsch im Zentrum Gazas gebe es zudem Panzerbeschuss. Offenbar führt die israelische Armee auch Luftangriffe im Süden des Gazastreifens durch, meldet der britische Sender BBC.

FILE - Palestinian boys sit on the rubble of a building destroyed in an Israeli airstrike in Nuseirat camp in the central Gaza Strip on Monday, Oct. 16, 2023. The need to bear witness, the journalists ...
Nuseirat wurde schon mehrmals von Israel angegriffen. Zwei palästinensische Jungen sitzen auf den Trümmern eines Gebäudes, das am 16. Oktober zerstört wurde. Bild: keystone

Israel müsse vor der Wiederaufnahme grösserer Militäreinsätze humanitäre Pläne zum Schutz der Zivilbevölkerung vorlegen, forderte US-Aussenminister Antony Blinken am Donnerstag bei einem Besuch in Israel. In den Plänen sollte etwa genau festgelegt werden, in welchen Gebieten Zivilisten im südlichen und zentralen Gazastreifen sicher seien. Die Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur wie von Krankenhäusern, Kraftwerken und Wasserversorgungsanlagen müsse vermieden werden. Sobald es die Bedingungen zuliessen, müssten Zivilisten auch die Möglichkeit haben, wieder in den Norden des Gazastreifens zurückkehren zu können, sagte Blinken. Es dürfe keine dauerhafte Vertreibung innerhalb des Gazastreifens geben.

US Secretary of State Antony Blinken takes part in a meeting with Israel's President Isaac Herzog, in Tel Aviv, Israel, Thursday, Nov. 30, 2023, following the announcement of an extension of the  ...
US-Aussenminister Anthony Blinken in Israel.Bild: keystone

Die israelische Regierungssprecherin Tal Heinrich erklärte daraufhin am Freitagmorgen dem Fernsehsender CNN, man habe Blinken Pläne für sichere Zonen und mehr humanitäre Korridore vorgelegt. «Wir wollen also das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza lindern», sagte sie.

Die humanitäre Lage ist auch nach Aussage von Marcus Schneider katastrophal. Dort lebten eineinhalb Millionen Binnenvertriebene «unter extrem prekären Zuständen zusammengepfercht», sagt der Leiter des FES-Büros im Nahen Osten zu t-online.

«Die wenigen Tage an Hilfslieferungen sind noch weit davon entfernt, den Bedürfnissen der Zivilbevölkerung gerecht zu werden und waren viel zu wenig, um die humanitäre Krise abzumildern.»

Was heisst das für die verbliebenen Geiseln?

Bisher hat die Hamas 105 Geiseln freigelassen. Israel vermutet, dass sich noch rund 145 Geiseln in den Händen der Hamas befinden. Darunter sollen 15 Frauen und Kindern sein, sechs sollen auch einen deutschen Pass besitzen. Über den gesundheitlichen Zustand der Geiseln ist nichts bekannt. Auch wo sich die Geiseln genau befinden, ist unklar.

Die israelischen Streitkräfte haben seit dem Beginn der Bodenoffensive mindestens zwei tote Geiseln aufgefunden, darunter auch die Deutsche Shani Louk. In einem Fernsehinterview am Donnerstag sagte ein Hamas-Sprecher auf die Frage, wie viele Geiseln noch leben: «Ich weiss es nicht. Die Zahl ist nicht so wichtig.»

Erst vor wenigen Tagen gab die Hamas bekannt, dass das jüngste Entführungsopfer, das 10 Monate alte Baby Kfir Bibas, sowie die Mutter und der Bruder in der Geiselhaft nach einem israelischen Luftschlag gestorben seien. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht.

Nahost-Experte Schneider geht davon aus, dass die meisten Geiseln noch am Leben sind. «Der Zustand der bisher ausgetauschten Geiseln lässt darauf schliessen, dass die Hamas den politischen Wert dieser Menschen durchaus erkannt hat. Sprich: eine lebendige, austauschbare Geisel als Faustpfand ist wertvoller als eine tote Geisel», sagt er zu t-online.

«Insofern kann man davon ausgehen, dass der Grossteil noch am Leben ist und erst dann ermordet würde, wenn der Kampf sich aus Sicht der Hamas als aussichtslos darstellt.»

In Katar gehen die Verhandlungen über die Freilassung weiterer Geiseln derweil weiter, gab das Aussenministerium des Emirats bekannt. Die Gespräche könnten allerdings erschwert werden, weil die Hamas einen höheren Preis für die verbliebenen Geiseln fordern könnte. Bisher musste Israel im Gegenzug 240 palästinensische Strafgefangene freilassen. Mehr über die im Gaza verbliebenen Geiseln lesen Sie hier.

Wie hat die Hamas die Feuerpause für sich nutzen können?

Die Feuerpause war vor allem für die notleidenden Menschen im Gazastreifen wichtig. Der Palästinensische Rote Halbmond hatte kurz vor Ausbruch der neuen Kämpfe mitgeteilt, seit Beginn der Waffenruhe hätten 310 Lastwagen mit Hilfsgütern erfolgreich den Norden des Gazastreifens erreicht. Demnach kamen seither mehr als 1'000 Lastwagen im gesamten Gebiet an. Laut Hilfsorganisationen ist das nur ein Bruchteil der benötigten humanitären Lieferungen.

epa11003731 A truck that was carrying humanitarian aid bound for the Gaza Strip passes back through the Rafah border crossing between the Gaza Strip and Egypt, in Rafah, Egypt 30 November 2023 Accordi ...
Ein Lastwagen mit Hilfsgütern passiert die Grenze in Rafah.Bild: keystone

Für die Hamas ergebe sich aus der Waffenruhe nur ein bedingter Nutzen, weil Israel weiter nachrichtlichendienstliche Aufklärung betrieben habe, erklärte der Militäranalyst Hendrik Remmel dem ZDF. «Eine wirkliche Restrukturierung der Kräfte wird der Hamas schwerfallen, vor allem weil in den vergangenen Wochen Führungseinrichtungen der Hamas getroffen wurden.» Der militärische Nutzen der Feuerpause sei deshalb für die Terrororganisation gering.

Schneider geht hingegen davon aus, dass der Terrororganisation die Feuerpause militärisch genutzt hat. «Die Hamas wird die Zeit genutzt haben, sich militärisch zu reorganisieren», sagt er. Ausserdem sei die Hamas politisch gestärkt worden.

«Man hat derzeit nicht den Eindruck, als würde trotz der enormen Zerstörungen als Folge der Terrorattacken vom 7. Oktober die Stimmung in der palästinensischen Bevölkerung signifikativ gegen die Hamas drehen.»

Kann Israel die Hamas zerstören?

Neben der Befreiung der Geiseln ist die Zerstörung der Hamas das zweite grosse Kriegsziel der Israelis. Das hat die Regierung am Freitag noch einmal bekräftigt. «Wir sind auf die nächste Phase der Operation vorbereitet», sagte Regierungssprecherin Heinrich.

«Die israelische Regierung ist entschlossen, die Ziele des Krieges zu erreichen: die Geiseln freizubekommen, die Hamas zu eliminieren und sicherzustellen, dass der Gazastreifen nie wieder eine Bedrohung für die Bewohner Israels darstellt.»

Kurz vor Ende der Feuerpause gab die israelische Armee bekannt, mehr als 400 Tunnel im Gazastreifen zerstört zu haben. Viele der Tunnel seien unter zivilen Krankenhäusern und Schulen gewesen. Manche Tunnel seien gross genug für Fahrzeuge. Die Hamas soll sich in den Tunneln versteckt und dort Kommandostützpunkte eingerichtet haben. Wie viele Tunnel es insgesamt im Gazastreifen gibt, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass die israelischen Soldaten nun weiter gegen die Infrastruktur der Hamas vorgehen.

Experten glauben allerdings nicht, dass es Israel gelingen wird, die gesamte Hamas zu zerstören. «Politisch ist dies sehr schwer, da die Hamas nicht nur eine Organisation, sondern auch eine Ideologie ist», sagt Nahost-Experte Schneider.

«Sie ist zudem nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland und in den Nachbarländern mit grösseren palästinensischen Bevölkerungszahlen aktiv, viele ihrer höheren Kader sitzen in der Türkei und in Katar.»

Militärisch liesse sich die Hamas im Gazastreifen zwar besiegen, allerdings nur mit extrem hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung, so der Experte. Ausserdem habe die israelische Armee bisher geschätzt erst zwischen 1'000 und 2'000 Hamas-Terroristen getötet. «Die Hamas hat allerdings geschätzte 30'000 Mann unter Waffen.»

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56 Kommentare
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George Cloowney & Brad Pildo
01.12.2023 20:42registriert November 2022
Solange sich die Hamas-Terroristen nicht bedingungslos ergeben, muss deren Bevölkerung konsequenterweise und getreu der Hamas kranken Ideologie weiter leiden.

Die Hamas hat keine Chance da irgendwie rauszukommen, die sind umzingelt und würden der Bevölkerung einen grossen Gefallen erweisen, dies endlich einzusehen um weiteres Leid zu verhindern.
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Max Dick
01.12.2023 20:58registriert Januar 2017
Kein Wunder, dass sich die Hamas nicht mal an diese Waffenruhe + Vereinbarung hält. Kriegstreiber wie diese Organisation haben von Natur aus kein Interesse an Frieden. Schande dass die Welt Israel auch noch kritisiert, wenn es halbwegs konsequent gegen die Hamas vorgeht, statt es mit allen Mitteln zu unterstützen.
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frank frei
01.12.2023 20:54registriert September 2018
Offenbar sind der Hamas die Geiseln ausgegangen. Mit dem Austausch von Geiseln haben sie sich bisher den Waffenstillstand erkauft. Jetzt nicht mehr.

Etwa 100 Geiseln wurden bis jetzt ausgetauscht. Man geht aber von etwa 240 Geiseln aus. Die Mehrheit der Entführten ist also immer noch in der Gewalt der Hamas ... fragt sich nur, in welchem Zustand.
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