Eben noch ganz oben, wenige Tage später schon wieder in toxischen Niederungen: Die frischgekürte 82-jährige Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux erlebt gerade, wie schnelllebig heute der Ruhm im Kulturbetrieb sein kann. Obwohl der Entscheid der Schwedischen Akademie allgemein begrüsst wurde, spürt Ernaux doch schon den heissen Atem der Cancel Culture im Nacken.
Inzwischen spricht kaum noch jemand über den Glanz ihrer Prosa. Gesprächsthema ist vor allem die dunkle Seite ihrer politischen Ansichten. Sie hat diverse Male die Kampagne «BDS» («Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen») unterstützt, die Israel wirtschaftlich, politisch, kulturell isolieren will. Führende BDS-Exponenten sprechen Israel gar das Existenzrecht ab.
Annie Ernaux unterzeichnete 2019 einen Aufruf zum Boykott des Eurovision Song Contest in Tel Aviv. Sie setzte ihren Namen auch unter einen BDS-Brief, in dem Israel als Apartheid-Regime hinstellt wird, obwohl der Vergleich mit dem Apartheid-Staat Südafrika historisch wie politisch falsch ist.
Die Klugheit, Sensibilität und gedankliche Schärfe, die Annie Ernaux' Bücher auszeichnen, sucht man in ihren politischen Aktivitäten vergeblich. Bei BDS ist der Übergang von antiisraelisch zu antisemitisch fliessend. Macht das Ernaux ebenso zu einer Antisemitin?
Bereits kursieren im Internet Berichte, welche die jüngste Literaturnobelpreisträgerin in einer Reihe mit dem Friedensnobelpreisträger Jassir Arafat zeigen. Der frühere Palästinenserführer hatte als glühender Antisemit lange mit Terrorattentaten und Bombenanschlägen auf die Vernichtung Israels hingearbeitet, ehe er 1993 zu Friedensverhandlungen einwilligte. Hat es Annie Ernaux verdient, in dieser Antisemiten-Galerie zu erscheinen?
Bis jetzt beschränkt sich ihr israelfeindliches Wirken auf Unterschriftenaktionen. Es fehlen eigene Äusserungen, die belegen, dass die Schriftstellerin aktiv gegen Israel hetzt oder sich als Antisemitin zu erkennen gibt. In ihren literarischen Werken deutet erst recht nichts auf eine judenfeindliche Haltung hin. Solange keine Texte oder Interviews mit belastenden Stellen von ihr auftauchen, gibt es keinen Grund, sie als Antisemitin zu verdammen.
An ihrem politischen Gespür muss jedoch gezweifelt werden. Zwar ist es legitim, die israelische Politik in den Palästinensergebieten zu verurteilen, doch nicht mit der ideologischen Einseitigkeit der BDS-Boykottideologie. Bei deren Aktionen finden palästinensische Terrorakte und Raketenangriffe auf Israel prinzipiell keine Erwähnung, wie die Zeitung «Jerusalem Post» schreibt.
In Israel und Deutschland ist jetzt die Irritation über die Vergabe des Literaturnobelpreises an Annie Ernaux besonders gross. In Frankreich dagegen ist Ernaux' Nähe zu BDS längst bekannt. Man kennt ihre militant linken Positionen.
Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen hat sie zur Wahl von Jean-Luc Mélenchon aufgerufen. Im Weltbild Linker gilt Israel meist als Unterdrückerstaat, und Palästinenser sind immer die Opfer. Dieses simplifizierende Schwarz-weiss-Denken teilt Ernaux offenkundig.
Sie unterstützte Anfang 2021 eine Petition zugunsten von Houria Bouteldja, einer algerisch-französischen Politaktivistin im Kampf gegen Islamophobie, Neokolonialismus und Rassismus, der Antisemitismus vorgeworfen wurde, nachdem sie die Auffassung vertreten hatte: «Israeli können nicht unschuldig sein.» Ernaux hatte offenbar kein Problem mit dieser Aussage und musste sich von Medien vorhalten lassen, mit ihrem Eintreten für eine antisemitische Propagandistin würde sie ihre eigenen linken Grundwerte verraten. In Wirklichkeit könnten nur politisch Blinde nicht unschuldig sein.
Politisch blind und alles andere als unschuldig: Damit ist die politische Annie Ernaux in ihrer Haltung zu Israel treffend erfasst - bis zum Antisemitismus ist es nur noch ein kleiner Schritt.
Fängt damit an, dass direkt die Cancel Culture als Tatsache beschrieben wird und dann sehr reisserisch alles einseitig dargestellt wird.
Dazwischen ein paar Relativierungen, die aber direkt im Folgeabsatz aufgehoben werden.
Was genau ist das Ziel des Artikels?
Ist das ein misslungenes Meinungsstück, das in eine Kolumne gehört?