Vollständige Besetzung von Gaza: Netanjahu steckt in der Sackgasse
Am Montagabend hiess es aus Jerusalem: «Die Würfel sind gefallen – wir beabsichtigen, den Gazastreifen vollständig zu besetzen.» Mit dieser Entscheidung strapaziert Premierminister Benjamin Netanjahu nicht nur die Beziehungen zu den westlichen Staaten, die derzeit ohnehin an einem Tiefpunkt angelangt sind. Er schlägt auch Warnungen ehemaliger hochrangiger israelischer Sicherheitschefs vor einer Fortsetzung des Kriegs in den Wind und ignoriert die Bedenken seiner Armeeführung.
Netanjahus Entschluss, den Krieg nicht nur fortzuführen, sondern weiter zu eskalieren, kommt zu einem Zeitpunkt, da er sich mit zunehmendem Widerstand gegen seine Kriegsführung in Gaza konfrontiert sieht – im Inland wie im befreundeten Ausland. So hat nicht nur der französische Präsident Emmanuel Macron angekündigt, Palästina als Staat anerkennen zu wollen, sondern auch der kanadische Ministerpräsident Mark Carney. Zuletzt drohte auch der britische Premierminister Keir Starmer mit dieser Massnahme, falls Israel nicht einer sofortigen Waffenruhe zustimmt.
Die westlichen Staatsführer sehen in der Anerkennung Palästinas einen diplomatischen Hebel, um Israel zur Beendigung des Gaza-Kriegs zu drängen. Die Verschärfung des Tons dürfte nicht zuletzt auf die Bilder von hungernden Kindern in Gaza zurückzuführen sein, die die öffentliche Meinung in den westlichen Ländern stark zuungunsten Israels beeinflusst haben. In Frankreich und Grossbritannien gibt es zudem bedeutende muslimische Minderheiten, die innenpolitisch zusehends an Gewicht gewinnen.
Der erhöhte diplomatische Druck aus London und Paris hat zumindest bisher nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Im Gegenteil: Netanjahus Ankündigung, den Gazastreifen komplett zu besetzen, läuft den Forderungen nach einer Waffenruhe diametral zuwider. Ein wohl nicht beabsichtigter Effekt der Absichtserklärungen, Palästina als Staat anzuerkennen, liegt allerdings darin, dass sie die Hamas wenigstens indirekt stärken. Zwar hat etwa Macron betont, die Hamas müsse die Geiseln freilassen und sie müsse entwaffnet und als politische Kraft ausgeschlossen werden.
Doch dies ist illusorisch. Die Terrororganisation hat diese Bedingungen bereits abgelehnt, zudem fordert sie nach wie vor einen palästinensischen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt – was Israel kaum akzeptieren würde. Vielmehr wird sich die Hamas, die sich trotz des nunmehr seit 22 Monaten andauernden Kriegs – wenn auch militärisch und organisatorisch stark geschwächt – immer noch in Gaza halten kann, diese diplomatischen Vorstösse zugunsten der Anerkennung Palästinas unweigerlich als Erfolg auf die Fahne schreiben. Wenn die westlichen Regierungen hoffen, die Hamas aus der Rechnung streichen zu können, dürften sie sich irren.
In einer Umfrage im vergangenen Mai, ob die Hamas entwaffnet werden sollte, um den Krieg zu beenden, lehnten in Gaza 77 Prozent der Befragten dies ab. Im von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwalteten Westjordanland waren es sogar 85 Prozent. Die Terrororganisation hat die Bevölkerung von Gaza mit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 ins Elend gestossen, doch einer Mehrheit der Palästinenser gilt sie als die wahre Verteidigerin der palästinensischen Sache. Sollte es in den palästinensischen Gebieten in naher Zukunft wider Erwarten zu Wahlen kommen, würde die Hamas sie mit Leichtigkeit gewinnen oder sie – falls sie von der Teilnahme ausgeschlossen würde – sabotieren und als illegitim denunzieren.
Netanjahu hat sich freilich selbst in diese missliche Situation manövriert. Die Solidarität mit dem jüdischen Staat, die unmittelbar nach dem 7. Oktober in weiten Teilen der westlichen Welt in ungewöhnlichem Ausmass vorhanden war, erodierte im Gleichschritt mit der fortlaufenden Zerstörung Gazas und den steigenden Opferzahlen. Noch im Januar dieses Jahres hätte der Waffenstillstand die Möglichkeit geboten, die Freilassung der restlichen Geiseln zu erreichen und den Krieg schliesslich in einer relativen Position der Stärke zu beenden.
Diese Chance liess der israelische Premier, dem das eigene politische Überleben anscheinend wichtiger ist als das Wohl seines Landes, ungenutzt verstreichen. Er führte den Krieg weiter und verhängte obendrein im März eine fast vollständige Blockade von Hilfslieferungen in den Gazastreifen, um den Druck auf die Hamas zu erhöhen. Diese nicht nur aus humanitären Gründen kolossale Fehlentscheidung führte zu einer massiven Beschädigung des ohnehin beeinträchtigten Rufs des jüdischen Staats. Sie führte zu einer gefährlichen Isolation Israels auf dem internationalen Parkett. Und sie führte zu den erwähnten Drohungen aus Paris und London, Palästina als Staat anzuerkennen – was in der gegenwärtigen Lage einzig der Hamas in die Karten spielt.
Eine wie auch immer geartete palästinensische Staatlichkeit mit der Hamas als Teilhaberin an der politischen Gewalt ist für Israel inakzeptabel. Die Terrororganisation hat klargemacht, dass sie gewillt ist, Israel zu vernichten und weitere Angriffe wie am 7. Oktober durchzuführen. Eben eine solche Teilhabe der Hamas an einem international anerkannten palästinensischen Staat rückt nun aber immer mehr in den Bereich des Möglichen – und dies nicht trotz Netanjahus Politik, sondern dank ebendieser.
Netanjahu hat sich einer Zweistaatenlösung entgegengestellt, als die Hamas noch politisch zusehends isoliert in Gaza herrschte. Jetzt wird er noch weit weniger die Hand reichen zu einer solchen Lösung, die derzeit auch in der israelischen Bevölkerung nur noch wenig Sympathie geniessen dürfte. Wie es scheint, hat er vielmehr beschlossen, den eingeschlagenen Weg der militärischen Zerschlagung der Hamas weiterzugehen – also mehr vom Gleichen, wenn es bisher noch nicht zum Ziel geführt hat.
Ob der israelische Premier dies tut, um seine rechtsextremen Koalitionspartner im Regierungsboot zu halten oder aus eigener Überzeugung, sei dahingestellt. Womöglich sieht Netanjahu in der gegenwärtigen Konstellation – im Weissen Haus sitzt mit Donald Trump ein israelfreundlicher Präsident, erbitterte Feinde wie das Mullah-Regime in Teheran oder die Hisbollah sind deutlich geschwächt – eine günstige Gelegenheit, in Gaza langfristig Fakten zu schaffen.
Das erklärte Kriegsziel, die Befreiung der restlichen Geiseln und die Zerschlagung der Hamas als militärischer und politischer Faktor in Gaza, dürfte indes kaum erreichbar sein. Generalstabschef Eyal Zamir wird wissen, warum er sich gegen die komplette Besetzung des Küstenstreifens ausspricht. Derzeit kontrolliert die israelische Armee rund drei Viertel des Gazastreifens; die Hamas verfügt jedoch nach wie vor über Guerillazellen, die in der Lage sind, Blitzangriffe und Raketenabschüsse durchzuführen. Tausende ihrer Kämpfer sind in meist unterirdischen Widerstandsnestern zurückgeblieben, teilweise auch in Gebieten, die an sich bereits unter israelischer Kontrolle stehen.
Selbst wenn es den israelischen Streitkräften gelingen sollte, den Gazastreifen vollständig unter Kontrolle zu bringen, wird Israel einen hohen Preis dafür bezahlen müssen: Viele der verbliebenen noch lebenden Geiseln würden wohl die Kämpfe nicht überleben, die Verluste der israelischen Truppen dürften weiter ansteigen. Vor allem aber wird die internationale Isolation Israels weiter zunehmen – in einem Ausmass, das für die Existenz des jüdischen Staates letztlich eine grössere Gefahr darstellt als selbst die Hamas.