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Israels «Rachefeldzug»: Ist eine Lösung des Konflikts denkbar?

Israeli tanks head towards the Gaza Strip border in southern Israel on Thursday, Oct.12, 2023. (AP Photo/Ohad Zwigenberg)
Ein israelischer Panzer auf dem Weg in Richtung Gazastreifen.Bild: keystone

Israels «Rachefeldzug» und die bange Frage: Was kommt danach?

Israels Militär will die Hamas-Führung ausschalten. Selbst wenn dies gelingen sollte, stellt sich eine Frage: Wie findet die Region aus der Endlosschlaufe von Gewalt und Hass heraus?
14.10.2023, 16:2014.10.2023, 16:21
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Eine Woche ist vergangen seit dem Tag, der als «Israels 9/11» in die Geschichte eingehen wird. Der Terrorangriff der radikalislamischen Hamas, die praktisch ohne Gegenwehr aus dem Gazastreifen auf israelisches Territorium vordringen konnte, forderte rund 1200 Todesopfer. Das sind etwa halb so viele wie im Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren.

Damals traf es praktisch nur Soldaten, jetzt sind es überwiegend Zivilisten. Hinzu kommen rund 150 Geiseln, die nach Gaza verschleppt wurden. Israel hat Vergeltung geschworen und zahlreiche Luftangriffe durchgeführt. Eine Bodenoffensive ist angedacht. Die israelische Armee will die Hamas und ihre Führung ein für alle Mal «ausradieren».

Angriff auf Israel

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Angriff auf Israel
Am Morgen des 7. Oktobers 2023 startete die Terrormiliz Hamas einen grossflächigen Angriff auf zahlreiche Ziele in Israel. Es handelt sich um den grössten Massenmord an Jüdinnen und Juden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
quelle: keystone / abir sultan
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Was leichter gesagt ist als getan. Der Gazastreifen ist etwa gleich gross wie die beiden Appenzell und mit mehr als zwei Millionen Einwohnern sehr dicht besiedelt. Es gibt ein weitverzweigtes Tunnelsystem und viele andere Verstecke. So gilt es als offenes Geheimnis, dass sich die Kommandozentrale der Hamas im grössten Spital von Gaza-Stadt befindet.

Wie konnte das passieren?

Auch die israelischen Geiseln dürften an diversen Orten festgehalten werden. Sie mit militärischen Mitteln zu befreien, ist schwierig bis unmöglich. Im Hintergrund laufen Vermittlungsbemühungen, in die die Türkei sowie vermutlich Katar und Ägypten involviert sind. Die Schweiz vermittelt angeblich auch, doch ihr Einfluss dürfte minim sein.

Es ist eine hochriskante Aufgabe mit ungewissem Ausgang, mit der sich Israel und seine Streitkräfte konfrontiert sehen. Auch wenn sich der jüdische Staat darauf konzentriert, hat die Aufarbeitung des Hamas-Terrors, der das Land traumatisiert hat wie kein Ereignis seit dem Jom-Kippur-Krieg, bereits begonnen. Alle fragen sich: Wie konnte das passieren?

Netanjahus mörderische Illusion

Neben dem Versagen von Sicherheitskräften und Geheimdiensten steht Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der Kritik. Er hat nicht nur das Land mit seiner rechtsreligiösen Regierung tief gespalten. Er hat Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, nur er könne Israels Sicherheit garantieren. Nun wurde dieses Versprechen als mörderische Illusion entlarvt.

Israel's Prime Minister Benjamin Netanyahu make statements with the U.S. Secretary of State Antony Blinken to the media, inside The Kirya, which houses the Israeli Ministry of Defense, after thei ...
Bild: keystone

Es rächt sich, dass Netanjahu sich damit begnügte, den Konflikt mit den Palästinensern zu verwalten. Gleichzeitig versuchte er, möglichst viele Abkommen mit arabischen Staaten abzuschliessen in der Hoffnung, den Palästina-Konflikt «übersteuern» zu können. Nicht ohne Erfolg. Sogar ein Friedensvertrag mit Saudi-Arabien schien realisierbar zu sein.

Hamas absichtlich toleriert

Israels Staatsführer hätten geglaubt, sie könnten die Palästinenser «auf unbestimmte Zeit in ghettoisierten Enklaven isolieren», sagte der Autor und Politikanalyst Omar Rahman auf CNN. Dies habe den Palästinensern weder Hoffnung noch eine politische Perspektive verschafft, sondern sie «mit einer Zukunft in permanenter Unterwerfung» konfrontiert.

Die Journalistin Tal Schneider warf Benjamin Netanjahu in der «Times of Israel» sogar vor, er habe die Hamas absichtlich toleriert und gestärkt, um die Autonomiebehörde in Ramallah zu schwächen. Er habe limitierte militärische Angriffe in Kauf genommen, um die Gründung eines Palästinenserstaats, und sei es nur im Westjordanland, zu verhindern.

«Eine totale Lose-lose-Situation»

Die Illusion, man könne dieses Potenzial an Hass und Gewalt verdrängen und ignorieren, ist in Blut und Tränen ertränkt worden. Jetzt stellt sich die Frage: Was kommt nach dem «Rachefeldzug»? Tal Schneider sieht schwarz. Beide Seiten seien in einem «Blutkreislauf» ohne erkennbaren Ausweg gefangen: «Es ist eine totale Lose-lose-Situation.»

Der Schriftsteller Thomas Meyer fürchtet, dass Israel «noch militanter und noch mehr rechts» sein werde. Eine friedliche Lösung ist auch in der Westbank kaum vorstellbar, wo mehr als 400’000 jüdische Siedler leben. Teils wurden sie angelockt durch billige Wohnungen, aber viele sind religiöse Fanatiker, die das biblische «Judäa und Samaria» annektieren wollen.

Das Ende der Zweistaatenlösung

Der saudische Friedensplan von 2002, der Israel diplomatische Beziehungen und Sicherheitsgarantien in Aussicht stellte als Gegenleistung für einen Rückzug hinter die Grenzen vor dem Sechstagekrieg von 1967, ist deshalb so unrealistisch geworden wie die Genfer Initiative von 2003, die einen Plan für eine Zweistaatenlösung entwarf.

Eine wichtige Rolle spielte die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Der Plan sei «in der Realität nicht umsetzbar», anerkannte sie im «Tages-Anzeiger». Sie propagiert einen einzigen Bundesstaat für Israelis und Palästinenser, mit den Palästinensergebieten als eine Art Kantone. In diesem Staatenmodell hätten Israelis und Araber dieselben Rechte.

Konföderation als Ausweg?

Eine solche «Einstaatenlösung» stösst in Israel auf wenig Gegenliebe, denn die arabische Bevölkerung wächst stärker als die jüdische. Einen anderen Ansatz skizzierte Jossi Beilin, ein Mitarchitekt des Osloer Abkommens von 1993 sowie der Genfer Initiative, im Interview mit dem «Spiegel»: Eine Konföderation auf Basis der Zweistaatenlösung.

U.S. Secretary of State Antony Blinken, left, shake hands with Palestinian President Mahmoud Abbas, in Amman, Jordan, Friday Oct. 13, 2023. (AP Photo/Jacquelyn Martin, Pool)
Antony Blinken,Mahmoud Abb ...
US-Aussenminister Antony Blinken am Freitag mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas.Bild: keystone

Dieses Konzept könnte es ermöglichen, dass alle israelischen Siedler, die dies wollten, in einem künftigen palästinensischen Staat leben würden und umgekehrt die gleiche Anzahl Palästinenser in Israel, so Beilin. In der Praxis allerdings dürfte die Umsetzung einer solchen Idee sehr schwierig werden, auch wegen der Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten.

Lösung nur mit anderer Regierung

Die Frage ist auch, wie es mit dem seit 2007 von der Hamas kontrollierten Gazastreifen weitergehen soll. Die beste Option wäre für Jossi Beilin, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde übernehmen würde. «Denkbar ist auch die vorübergehende Kontrolle erst durch die Arabische Liga oder ein internationales Gremium.»

Auch in diesem Fall wäre die Umsetzung schwierig, das weiss Beilin. «Die Entmachtung der Hamas ist wichtig», sagt er. Falls sie an der Macht bleibe, schlägt er genau das vor, was Netanjahu angeblich verhindern wollte: einen Friedensvertrag nur für das Westjordanland. Klar sei deshalb, dass eine Lösung nur mit einer anderen Regierung möglich sein werde.

Dies könnte das geringste Problem sein, denn Bibi Netanjahu wird sich kaum halten können. Alles andere bleibt nach Jahrzehnten voller Gewalt und Hass und aufgrund vollendeter Tatsachen durch die völkerrechtswidrige Besiedelung extrem schwierig. An guten Ideen hat es in diesem Konflikt nie gefehlt. Ihre Umsetzung ist der Knackpunkt.

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148 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Haarspalter
14.10.2023 17:25registriert Oktober 2020
Sämtliche im Artikel skizzierten und von gescheiten Leuten erdachten Lösungen könnten funktionieren, wenn man von vernunftbegabten, kompromissbereiten und friedensliebenden Playern ausgeht.

Die Menschen in diesen Ländern ticken aber leider nicht so:
Vernunft und Kompromissbereitschaft werden von Emotionen und religiös-politischem Fanatismus übersteuert.

Mit diesen Zutaten lässt sich kein geniessbares Rezept kochen.
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East Clintwood
14.10.2023 17:34registriert Juli 2022
So lange in der Gegend Terrororganisationen, deren Ziel die komplette Auslöschung der Juden ist, existieren und die Isreali de facto konstant über eine äusserts rechts orientierte religöse Regierung verfügen, wird sich nie jemals etwas ändern ...

Dass daneben noch Staaten existieren, welche Isreal von der Landkarte entfernen möchten, hilft auch nicht.
Die Verlierer sind wie immer die gemeinen Leute ...
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Walter Sahli
14.10.2023 17:03registriert März 2014
Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass da noch eine Möglichkeit besteht, dass Israelis und Palästinenser je friedlich im gleichen Raum leben können. Es reichen ja jeweils ein paar Fanatiker auf einer Seite und schon ist die Kacke wieder am Dampfen. Entweder eine Gruppe zieht weg oder es bleibt wie es die letzten 70 Jahre war - permanenter Krieg. (Die komplette Vernichtung einer der beiden Gruppen schliessse ich jetzt mal aus.). Der Glaube daran, dass beide Gruppen irgendwann einander verzeihen werden, wie z.Bsp. die Katholiken und Protestanten in der Schweiz, habe ich verloren.
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