«Der starke Anstieg der Migrationsströme im laufenden Jahr hat zur schwerwiegenden Überbelegung in den Erstaufnahmezentren geführt, besonders im Hotspot von Lampedusa», begründete die Regierung von Giorgia Meloni die Ausrufung des Notstands.
Tatsächlich ist die Situation im Aufnahmezentrum der kleinen Touristeninsel nicht erst seit gestern unhaltbar: Allein am Ostersonntag und am Ostermontag sind in Lampedusa rund 2000 Bootsflüchtlinge an Land gegangen; am Dienstag befanden sich laut Behördenangaben noch 1659 Migranten in dem Lager, bei einer Kapazität von 400 Personen. Insgesamt sind in Italien seit Anfang Januar schon 32'000 Bootsflüchtlinge angekommen - dreimal mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahrs.
«Notstand»: Das tönt dramatisch. Und tatsächlich handelt es sich um eine Massnahme, die in Italien jeweils bei schweren Erdbeben ergriffen wird, oder, bisher das letzte Mal, während der Covid-Pandemie mit Zehntausenden von Toten.
Trotz der dramatischen Bezeichnung handelt es sich aber in erster Linie um eine administrative Massnahme: Dank dem am Dienstagabend beschlossenen «Migrationsnotstand» sollen bürokratische Hürden bei der Verlegung der Flüchtlinge von Lampedusa aufs Festland und bei der Bereitstellung neuer Unterbringungsplätze umgangen werden. Beispielsweise musste die Regierung bisher jeden Schiffstransport von Migranten von Lampedusa öffentlich ausschreiben - dieser Unfug wird nun ein Ende haben.
Die Unterbringung der Flüchtlinge stellt die Regierung inzwischen vor fast unlösbare Probleme, nicht nur in Lampedusa. Im sizilianischen Catania, wo viele Flüchtlinge aus Lampedusa hingebracht werden, baut der örtliche Zivilschutz derzeit eine Zeltstadt. Aber nicht nur in Sizilien sind Unterbringungsplätze Mangelware. Das Ziel der Regierung Meloni besteht darin, dass jede der zwanzig italienischen Regionen ein grosses Aufnahme- und Abschiebezentrum erhält - bisher verfügen erst neun Regionen über eine solche Struktur.
Die Opposition warf der Regierung unnötigen Alarmismus vor: Es sei falsch, die Migration mit der Verhängung des Notstands wie eine Naturkatastrophe oder eine Pandemie zu behandeln. Tatsächlich kommt die Massnahme der Rechtsregierung dem Eingeständnis der eigenen Macht- und Hilflosigkeit gleich: Giorgia Meloni, Chefin der postfaschistischen Fratelli d'Italia, findet kein Mittel gegen den Strom der Flüchtlinge.
Sie hatte im Wahlkampf die Verhängung einer Seeblockade gegen die Boote der Migranten in Aussicht gestellt. Das war von Anfang an ein unrealistisches Versprechen gewesen: Die Flüchtlingsboote kann man nicht abfangen wie feindliche Kriegsschiffe, und die oft kaum seetüchtigen Migranten-Boote zur Umkehr zu zwingen, würde bedeuten, die Flüchtlinge in den sicheren Tod zu schicken.
Die Regierung Meloni war schon Ende Februar von der brutalen Realität der gefährlichen Überfahrten über das Mittelmeer eingeholt worden, als an einem Strand in Kalabrien über neunzig Migranten ertranken, nachdem ihr Boot auf einer Sandbank zerschellt war.
Die Bilder von Dutzenden Särgen in der Sporthalle von Crotone gingen um die Welt; die italienischen Behörden sahen sich - ob zu Recht oder zu Unrecht soll eine laufende Strafuntersuchung abklären - mit dem Vorwurf konfrontiert, dem Boot trotz Sturm und schwerer See nicht zur Hilfe gekommen zu sein. Seither hat die italienische Küstenwache - wie sie es schon immer machte - weiter Tausende von Migranten aus Seenot gerettet und an Land gebracht - das genaue Gegenteil einer Seeblockade.
Angesichts der objektiven Unmöglichkeit, das Anlanden von Flüchtlingsbooten zu verhindern, macht sich Meloni in Brüssel für gemeinsame Anstrengungen stark, die Boote schon in den Herkunftsländern am Ablegen zu hindern, vor allem in Tunesien. Letztlich schwebt der italienischen Regierungschefin ein ähnlicher Milliarden-Deal vor, wie ihn die EU nach der Flüchtlingskrise von 2015 mit der Türkei abgeschlossen hatte.
In Tunesien wird die politische Situation immer instabiler; für den Fall, dass die Regierung von Kais Saied stürzen sollte, befürchten italienische Geheimdienste einen neuen Exodus wie in den Zeiten des arabischen Frühlings: Hunderttausende junger Tunesierinnen und Tunesier könnten sich auf den Weg nach Italien und nach Europa machen. (aargauerzeitung.ch)