Hardeep Singh Nijjar wurde im Juni erschossen. Sein Tod ist zum Politikum geworden und beschwört eine diplomatische Krise zwischen Kanada und Indien herauf.
Denn Nijjar war kanadischer Staatsbürger. Und der kanadische Premierminister, Justin Trudeau, beschuldigte in aller Öffentlichkeit die indische Regierung des Mordes an dem Kanadier Nijjar. Die diplomatischen Spannungen zwischen den Ländern verstärken sich deswegen.
Doch worum geht es überhaupt?
Hardeep Singh Nijjar gehörte der Religionsgemeinschaft der Sikh an und war ein bekannter Unterstützer eines unabhängigen Sikh-Staates, Khalistan genannt. So wollte er ein Referendum über die Etablierung eines unabhängigen Khalistan abhalten – Aktivisten in der Diaspora führen in verschiedenen Ländern immer wieder solche durch.
Doch bevor es dazu kam, wurde er im Juni vor einem Sikh-Kulturzentrum, dessen Präsident er war, in Surrey in der Nähe von Vancouver erschossen.
Das Brisante dabei: Vor seinem Tod wurde Nijjar von Indien als «Terrorist» gebrandmarkt. Ihm wurde vorgeworfen, ein Mitverschwörer bei einem Bombenattentat 2007 in einem Kino in Punjab gewesen zu sein. Indien wollte darum, dass der kanadische Sikh festgenommen wird. Nijjar sei vom kanadischen Geheimdienst gewarnt worden, dass er gefährdet sei.
Kanada beschuldigt nun Indien des Mordes an Nijjar und wies in diesem Zusammenhang einen ranghohen Diplomaten aus, den die kanadische Aussenministerin Mélanie Joly als «Leiter des indischen Geheimdienstes im Lande» bezeichnet hatte.
Indien wies die Vorwürfe umgehend zurück und bezeichnete sie als «absurd und motiviert». Gleichzeitig verlautete Indien, Kanada versuche mit den Anschuldigungen von «Terroristen und Extremisten» der Khalistan-Bewegung abzulenken.
Auch Indien verwies in der Folge einen ranghohen kanadischen Diplomaten des Landes. Weiter warnten die indischen Behörden ihre Landsleute und rieten zu äusserster Vorsicht bei Aufenthalten in Kanada. Dies wurde mit angeblicher politisch genehmigter Hasskriminalität und krimineller Gewalt in Kanada begründet.
Kanadische Beamte sagten derweil eine seit längerem geplante Reise nach Mumbai für Handelsgespräche ab.
Um den aktuellen Konflikt und die Haltung Indiens verstehen zu können, lohnt sich ein Blick in die Geschichte der Sikh-Religionsgemeinschaft und insbesondere der Khalistan-Bewegung.
«Khalistan» bedeutet so viel wie «Land der Reinen» und ist die Bezeichnung eines hypothetischen, unabhängigen Sikh-Staates in der Punjab-Region. Diese historische Region im Norden Indiens und Pakistans wurde zwischen den beiden Ländern aufgeteilt, als sie ihre Unabhängigkeit erlangten: Der mehrheitlich muslimische Westen der Punjab-Region wurde Pakistan, der mehrheitlich von Sikhs bewohnte Osten Indien zugeschlagen.
Die Sikhs sind eine monotheistische Religionsgemeinschaft, der in Indien etwa 23 Millionen und in der Diaspora etwa drei Millionen Menschen angehören. Sie entstand im 15. Jahrhundert in der Punjab-Region, die damals unter muslimischer Herrschaft der Moguln stand. Der Traum eines unabhängigen Sikh-Staates war bereits bei der Teilung Indiens 1947 präsent, doch kaum realistisch.
In den späten 70er- und frühen 80er-Jahren wurde der Wunsch nach einem unabhängigen Khalistan wieder sehr lebendig. Vor allem in der Diaspora in Kanada und im Vereinigten Königreich konnten sich viele Sikhs dafür begeistern. In Indien setzten sich damals viele im Punjab für mehr Autonomie ein – in den 80ern wurde diese Vision auch mit Gewalt verfolgt.
Mit Jarnail Singh Bhindranwale hatte die Bewegung in den frühen 80ern einen charismatischen Anführer, der verkündete, Sikhs seien «Sklaven im unabhängigen Indien» und sollten zu den Grundlagen der Religion zurückkehren. Er war nicht direkt für ein unabhängiges Khalistan, war der Vorstellung davon allerdings auch nicht abgeneigt. Seinen Auftritten folgten bald Gewaltausbrüche.
Die Situation eskalierte 1984 komplett. Bhindranwale scharte eine Gruppe von Anhängern um sich und richtete sich im wichtigsten Heiligtum der Sikhs, im Goldenen Tempel, in Amritsar ein und errichtete dort ein Waffenlager. Von dort aus wollten sie einen Aufstand anführen. Als die Gewalt zunahm und die Separatisten politische Gegner und Hindu-Zivilisten im Kampf für ein unabhängiges Khalistan ermordeten, beschloss die indische Regierung, den Tempel zu stürmen, um die Terroristen zu vertreiben. Dies wurde Operation Blue Star genannt und führte zu etwa 3500 Todesopfern – darunter hunderte Regierungssoldaten sowie Pilgerinnen und Pilger. Auch Bhindranwale wurde dabei getötet – und für viele Sikhs zum Märtyrer.
Doch die Lage eskalierte immer mehr. Die damalige Premierministerin Indira Gandhi, die die Operation angeordnet hatte, wurde in der Folge von ihren Sikh-Leibwächtern bei einem Gartenspaziergang erschossen. Dies führte zu noch mehr Gewalt. Überall in Indien wurden Sikhs attackiert, Tausende wurden getötet.
Dies führte dazu, dass immer mehr Sikhs innerhalb und ausserhalb Indiens die Idee eines unabhängigen Khalistans unterstützten. Es kam zu immer mehr terroristischer Gewalt. 1985 zündeten Terroristen der Khalistan-Bewegung eine Bombe auf einem Air-India-Flug von Montreal nach London – dabei kamen alle 329 Personen an Bord ums Leben, die meisten von ihnen Kanadier. Die Gewalt hielt bis in die 90er an.
Inzwischen hat die Bewegung viel Unterstützung verloren. Die meisten Sympathisanten gibt es in der Diaspora, vor allem im Vereinigten Königreich sowie in Australien und Kanada. Die Niederschlagung des Aufstands und das wirtschaftliche Wachstum haben dazu geführt, dass die Vision eines unabhängigen Khalistans in Indien keine Rolle mehr spielt. Die einzige verbleibende Partei, die sich dafür ausspricht, erreichte bei den Wahlen gerade mal 3 Prozent der Stimmen.
Im März dieses Jahres kam es allerdings im indischen Punjab so weit, dass das mobile Internet für die 27 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner während mehreren Tagen abgeschaltet wurde, um einen flüchtigen Anführer von militanten Khalistan-Befürwortern ausfindig zu machen. Dieser konnte festgenommen werden, zusammen mit 200 angeblichen Mitstreitern.
Ebenfalls im März fand eine Demonstration vor dem indischen Hochkommissariat in London statt, bei der eine indische Flagge eingeholt und stattdessen eine Khalistan-Flagge auf dem Dach des Gebäudes gehisst wurde.
Heinzbond
Wieder einmal etwas gelernt, ein par Minuten Nachrichten lesen bildet...