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Ist Dostojewski ein Prophet Putins, den wir nicht mehr lesen dürfen?

PHOTO STUDIO V. LAUFFERT. Portrait of the author Fyodor M. Dostoevsky (1821-1881). Credit: Album / Fine Art Images
Fyodor Dostojewski, Photo Studio V. Lauffert.Bild: www.album-online.com
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Ist Dostojewski ein Prophet Putins, den wir nicht mehr lesen dürfen?

Der ukrainische Ex-Botschafter in Deutschland behauptet, die russischen Klassiker seien Inspirationsquellen der heutigen Kriegstreiber.
04.07.2023, 22:2704.07.2023, 22:27
Julian Schütt / ch media
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Russlands Nationalheilige wie Tolstoi oder Dostojewski sind in der Ukraine verpönt, seit Putin das Land überfallen hat. Sie stehen wie alles Russische unter dem Verdacht, Grossmachtsdenken zu legitimieren. Das ist verständlich. Weniger nachvollziehbar ist der Eifer, mit dem ukrainische Intellektuelle auch uns in Westeuropa die Liebe zur russischen Literatur austreiben wollen.

epa09933690 Ukrainian ambassador to Germany Andrij Melnyk speaks at the Soviet War Memorial in Berlin, Germany, 08 May 2022. The Berlin regional senate banned the showing of Ukrainian and Russian flag ...
Andrij Melnyk: «Zärtliche russische Seele. Igitt.»Bild: keystone

Nun eskaliert dieser Kulturkampf vollends. Seit Carlo Masala, deutscher Militärexperte und gern gesehener TV-Talkshow-Gast, Fjodor Dostojewskis Novelle «Weisse Nächte» aus dem Jahr 1848 empfohlen und sie zu den weniger bekannten, aber «schönsten, zärtlichsten, zerbrechlichsten und gleichzeitig kraftvollsten Werken» des Dichters gezählt hat, ist der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, nicht mehr zu bremsen.

In der «übelsten Nationalismusjauche» gelandet?

«Die ‹zärtliche› russische Seele. Igitt», twittert er – und rät Masala, ukrainische Literatur zu lesen. Der wiederum mahnt Melnyk zur Zurückhaltung, «bevor Sie noch in der übelsten Nationalismusjauche landen». Doch Melnyk, der Rowdy unter den diskreten Diplomaten, legt jetzt erst recht los gegen «Dostojewski-Fans».

06.01.2023, Bayern, Seeon-Seebruck: Carlo Masala, Professor f�r Internationale Politik an der Universit�t der Bundeswehr in M�nchen, gibt w�hrend der Winterklausur der CSU im Bundestag vor dem Kloster ...
Carlo Masala: «Nationalismusjauche».Bild: Imago/Jürgen HeinrichBild: keystone

Er erinnert auf Twitter an die vor einer Woche von einer russischen Rakete getötete ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina. Deren Angreifer seien bestimmt «von Ihrem Genie Dostojewski inspiriert» gewesen.

Chauvinistisches und obskures Gedankengut bei Dostojewski

Ist der russische Nationalklassiker aus dem 19. Jahrhundert ein geistiger Anreger des heutigen Kriegs? Kann man ihn damit indirekt mitverantwortlich machen für den Tod der jungen ukrainischen Autorin Victoria Amelina und Tausender weiterer Zivilisten?

Tatsächlich wird Dostojewski seit längerem von grossrussischen Fanatikern und damit auch von Putin vereinnahmt. Und er hat zweifellos Chauvinistisches und Obskures geschrieben.

Aber das ist nur ein Bruchteil seines Werks. In seinen Epen «Schuld und Sühne», «Der Idiot», «Böse Geister» oder «Die Brüder Karamasow» bannt er den Menschen in seiner ganzen Komplexität, mit seinen Freiheiten und Zwängen, seinen Aufschwüngen und Abstürzen. In den Romanen drücken sich alle erdenklichen Stimmen aus, die sowohl von Menschlichkeit als auch von Missbrauch und Pervertierung der Macht erzählen. Immer wieder wendet sich Dostojewski gegen das Töten und die Gewalt.

Diese Bücher lassen sich noch immer mit grossem Gewinn lesen, auch wenn Dostojewski selbst ein abgründiger Autor war: Er dachte erst frühsozialistisch, dann konservativ, war spielsüchtig, wurde zum Tod verurteilt und beinahe hingerichtet und dann zur Zwangsarbeit nach Sibirien verdammt, gerade weil er Russland mit seinen Weltverbesserungsideen erneuern wollte.

Ja, er vertritt auch tief autokratisches und imperialistisches Gedankengut, auf das sich Putins Machtapparat aus Politik, Kultur und Kirche gern beruft. Aber wie jede grosse Literatur eignet sich Dostojewski nicht für Propaganda.

Nur wer ihn primitiv zurechtstutzt, kann Dostojewski als rein ideologischen Propheten des Putinismus abtun. Dann aber muss man fast jeden Klassiker canceln, auch unsere Schweizer. Gotthelfs Werk etwa ist ebenfalls nicht stubenrein und liesse sich leicht von Demagogen aller Art missbrauchen.

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33 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Eisvogel
04.07.2023 22:41registriert Februar 2019
Ich mag Wagner nicht, Dostojewski nicht sehr. Was ich aber noch viel weniger mag: die Vereinnahmung von Kunst für politische Zwecke.
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Kip_Organa
05.07.2023 00:38registriert März 2018
Was kommt als nächstes? Die Bücherverbrennung? Dostojevski zu lesen sollte nicht verboten sondern Pflicht sein! Pflicht ist aber auch Literatur zu hinterfragen und das Gelesene in seinem historischen Kontext zu begreifen. Man muss mit (insbesondere älteren) Autor*innen und ihren Texten nicht zwingend übereinstimmen, aber sich damit auseinanderzusetzen schadet meist nicht.
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Volande
04.07.2023 22:56registriert Dezember 2014
Dostojewski ist mit Sicherheit problematisch in seinem Denken, aber manchmal braucht es ein paar Dachschäden, um große Werke zu liefern. Abgründe werden darin ausgeleuchtet, darum soll das Zeug auch gelesen werden. Melnyk hingegen ist eine andere Frage, in dessen Traumstaat würd ich auch nicht leben wollen. In diesem Krieg steht er auf der richtigen Seite (der Angegriffenen und Unterdrückten), aber das ist erstens sinnvoll und naheliegend und hat zweitens nichts mit Literatur zu tun. Dostojewski hat im 20. Jht schlicht alle Lesenden beeinflusst, da muss Putain ganz weit hinten anstehen.
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