Russlands Nationalheilige wie Tolstoi oder Dostojewski sind in der Ukraine verpönt, seit Putin das Land überfallen hat. Sie stehen wie alles Russische unter dem Verdacht, Grossmachtsdenken zu legitimieren. Das ist verständlich. Weniger nachvollziehbar ist der Eifer, mit dem ukrainische Intellektuelle auch uns in Westeuropa die Liebe zur russischen Literatur austreiben wollen.
Nun eskaliert dieser Kulturkampf vollends. Seit Carlo Masala, deutscher Militärexperte und gern gesehener TV-Talkshow-Gast, Fjodor Dostojewskis Novelle «Weisse Nächte» aus dem Jahr 1848 empfohlen und sie zu den weniger bekannten, aber «schönsten, zärtlichsten, zerbrechlichsten und gleichzeitig kraftvollsten Werken» des Dichters gezählt hat, ist der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, nicht mehr zu bremsen.
«Die ‹zärtliche› russische Seele. Igitt», twittert er – und rät Masala, ukrainische Literatur zu lesen. Der wiederum mahnt Melnyk zur Zurückhaltung, «bevor Sie noch in der übelsten Nationalismusjauche landen». Doch Melnyk, der Rowdy unter den diskreten Diplomaten, legt jetzt erst recht los gegen «Dostojewski-Fans».
Er erinnert auf Twitter an die vor einer Woche von einer russischen Rakete getötete ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina. Deren Angreifer seien bestimmt «von Ihrem Genie Dostojewski inspiriert» gewesen.
Ist der russische Nationalklassiker aus dem 19. Jahrhundert ein geistiger Anreger des heutigen Kriegs? Kann man ihn damit indirekt mitverantwortlich machen für den Tod der jungen ukrainischen Autorin Victoria Amelina und Tausender weiterer Zivilisten?
Tatsächlich wird Dostojewski seit längerem von grossrussischen Fanatikern und damit auch von Putin vereinnahmt. Und er hat zweifellos Chauvinistisches und Obskures geschrieben.
Aber das ist nur ein Bruchteil seines Werks. In seinen Epen «Schuld und Sühne», «Der Idiot», «Böse Geister» oder «Die Brüder Karamasow» bannt er den Menschen in seiner ganzen Komplexität, mit seinen Freiheiten und Zwängen, seinen Aufschwüngen und Abstürzen. In den Romanen drücken sich alle erdenklichen Stimmen aus, die sowohl von Menschlichkeit als auch von Missbrauch und Pervertierung der Macht erzählen. Immer wieder wendet sich Dostojewski gegen das Töten und die Gewalt.
Diese Bücher lassen sich noch immer mit grossem Gewinn lesen, auch wenn Dostojewski selbst ein abgründiger Autor war: Er dachte erst frühsozialistisch, dann konservativ, war spielsüchtig, wurde zum Tod verurteilt und beinahe hingerichtet und dann zur Zwangsarbeit nach Sibirien verdammt, gerade weil er Russland mit seinen Weltverbesserungsideen erneuern wollte.
Ja, er vertritt auch tief autokratisches und imperialistisches Gedankengut, auf das sich Putins Machtapparat aus Politik, Kultur und Kirche gern beruft. Aber wie jede grosse Literatur eignet sich Dostojewski nicht für Propaganda.
Nur wer ihn primitiv zurechtstutzt, kann Dostojewski als rein ideologischen Propheten des Putinismus abtun. Dann aber muss man fast jeden Klassiker canceln, auch unsere Schweizer. Gotthelfs Werk etwa ist ebenfalls nicht stubenrein und liesse sich leicht von Demagogen aller Art missbrauchen.