Das Frankreich, das wir kennen, liegt im Sterben
Vielleicht sässe Frankreich gar nicht in so einer Klemme, hätten die jüngsten Umfragen – jene, die am 3. Oktober im Wochenmagazin Le Point erschienen sind – Bruno Retailleau und seine Partei Les Républicains nicht in allen Szenarien schon im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 2027 scheitern lassen.
Wer weiss: Vielleicht suchte der zurückgetretene Innenminister schlicht einen Vorwand, um sich noch rechtzeitig aus diesem macronistischen Machtapparat zu lösen, der nur noch Niederlagen produziert – in der Hoffnung, den Aderlass seiner letzten Chancen zu stoppen. Die Ernennung von Bruno Le Maire zum Verteidigungsminister hat ihm den Vorwand geliefert. Davon sei Bruno Retailleau nicht informiert worden, sagte er. Ein Versäumnis, das das Vertrauensverhältnis zum kurzlebigen Premier Sébastien Lecornu beschädigt habe.
Übersetzung
Dieser Text wurde von unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Romandie geschrieben, wir haben ihn für euch übersetzt.
Doch hinter diesem kindischen Theater steckt eine demokratische Krise, wie Frankreich sie seit dem Inkrafttreten der Fünften Republik 1958 nicht erlebt hat. Eigentlich sollte diese Verfassung das Land vor institutioneller Instabilität schützen. Heute steckt es in einer Dreiteilung fest: eine Linke, in der radikale Ideen den Ton angeben, ein bürgerliches Mitte-rechts-Lager und eine mächtige extreme Rechte, verkörpert vom Rassemblement National.
Irre Parlamentsauflösung
Diese seit Jahren angelegte, inzwischen unregierbare Konstellation ist die unmittelbare Folge der irrsinnigen Parlamentsauflösung vom Juni 2024, die Emmanuel Macron nach den Europawahlen veranlasste – nach dem Debakel seiner Liste. Dabei zwang den Staatschef damals nichts zur Auflösung. Zusammen mit den Républicains verfügte er noch über eine deutliche relative Mehrheit. Doch er zog es vor, das Schicksal der französischen Demokratie mit einem Würfelwurf zu riskieren.
Bei genauerem Hinsehen ist die Dreiteilung weniger Ursache der aktuellen politischen Blockade in Frankreich als vielmehr das Ergebnis eines langsamen, fast unaufhaltsamen Aufstiegs des Rassemblement National. Der RN – früher Front National – ist der Elefant im Raum der französischen Republik. Der demokratische Wettbewerb ist seit über zwanzig Jahren verzerrt: durch seine Allpräsenz bei Wahlen und die ständigen Aufrufe, ihm eine «republikanische Brandmauer» entgegenzustellen. Die Folge: Viele Wählerinnen und Wähler stimmen bereits in den ersten Wahlgängen «strategisch» ab, statt nach ihrer tatsächlichen Präferenz – damit die extreme Rechte am Ende nicht alles abräumt.
Die «republikanische Brandmauer» liegt im Sterben
Das hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2024 zwar funktioniert, die Unregierbarkeit des Landes aber nicht verhindert. Es heisst, beim nächsten Mal werde das nicht mehr ziehen. Daher wohl Bruno Retailleaus Entscheidung, das Regierungsschiff zu verlassen – nicht, um einen möglichen Sieg des RN bei den kommenden Parlamentswahlen um jeden Preis zu verhindern, sondern um dessen Folgen abzumildern – notfalls, indem sich Les Républicains «auf allgemeinen Wunsch» mit der extremen Rechten verbünden.
Der Aufstieg des RN hat zugleich den Vormarsch eines anderen Extrems begünstigt: der radikalen Linken (LFI) um Jean-Luc Mélenchon. Deren bisweilen überzogene Auftritte und Aussagen lassen LFI heute in den Augen der Französinnen und Franzosen gefährlicher erscheinen als die Partei von Marine Le Pen.
Fazit: Die Strategie, die extreme Rechte einzudämmen – genährt vom schlechten Gewissen über die Kollaboration Frankreichs mit den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg – hat den Moment der Wahrheit womöglich nur hinausgezögert. Der RN arbeitete derweil beharrlich daran, sich im Lauf der Jahre salonfähig zu machen.
«Identitätskapital»
Doch auch hier sind es weniger die Institutionen, die den Erfolg der harten Rechten erklären, als vielmehr eine wachsende Sehnsucht in den «Völkern» Europas – von den USA ganz zu schweigen –, ein durch die Globalisierung ramponiertes «Identitätskapital» wiederherzustellen. Dieses Kapital gilt als umso stärker angegriffen, je mehr sich die Lebensbedingungen der Mittelschicht immer weiter verschärft haben.
Zurück zu Frankreich: Eine solche Entwicklung – deren grösstes Übel das Benennen von Sündenböcken ist – würde in einem Verhältniswahlrecht, das Koalitionen begünstigt, wohl abgefedert, wie man in Italien sieht. In einem Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen – oder mit nur einem, wie im Vereinigten Königreich, wo die Partei des Brexit-Frontmanns Nigel Farage in den Umfragen vorne liegt – fällt der Effekt eines Siegs der extremen Rechten oder einer vergleichbaren Kraft deutlich stärker aus.