Chaostage in Frankreich: Nun geht es um Macrons Nachfolge
Aussenpolitisch kann Emmanuel Macron noch punkten. Etwa als er vor der UNO-Generalversammlung die Anerkennung des Staates Palästina verkündete. Oder als treibende Kraft einer «Koalition der Willigen» zur Unterstützung der Ukraine für den Fall, dass US-Präsident Donald Trump das von Russland terrorisierte Land im Stich lassen sollte.
Auf heimischem Terrain aber ist der französische Präsident zur oberlahmen Ente geworden. Einen Tiefpunkt erreichte er am Montag, als Sébastien Lecornu als Premierminister das Handtuch warf, bevor er das Amt richtig angetreten hatte. Macrons enger Vertrauter sah sich ausserstande, eine funktionstüchtige und mehrheitsfähige Regierung zu bilden.
Beobachter fühlen sich an die instabile Vierte Republik nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, als die Regierungen kurzlebig waren. Zwei Premierminister hielten sich damals gerade mal zwei Tage im Amt. Das Chaos endete 1958, als Weltkriegsheld Charles de Gaulle die Fünfte Republik mit einem sehr mächtigen Staatspräsidenten ins Leben rief.
Keine klare Mehrheit
Das Konzept basierte auf einem starken linken und rechten Block, doch diese Zeiten sind auch in Frankreich vorbei. Dies zeigte sich überdeutlich, als Emmanuel Macron nach der Niederlage seines Zentrumsblocks bei der Europawahl im Juni 2024 eine Neuwahl des Parlaments anordnete. Sie endete ohne klare Mehrheit in der Nationalversammlung.
Die meisten der 577 Sitze holte das wackelige Linksbündnis Nouveau Front Populaire (NFP), gefolgt von den zentristischen «Macronisten». Das rechtsradikale Rassemblement National (RN) wurde nur drittstärkste Kraft. Trotz «Linksrutsch» versuchte es Macron zweimal mit einem Regierungschef von Mitte-Rechts, doch Michel Barnier und François Bayrou hielten sich nicht lange.
Erlahmender Protestelan
Mit Sébastien Lecornu dürfte der Versuch, ohne Mehrheit zu regieren, endgültig gescheitert sein. Hauptproblem ist neben der Instabilität im Parlament die enorme Staatsverschuldung. Seit Macrons Amtsantritt 2017 hat sie um gegen eine Billion Euro zugenommen. Doch in Frankreich gilt mehr noch als anderswo: Sparen ist ok, aber keinesfalls bei mir.
Die einstige Grande Nation ist ein politisches Paradox. Man wünscht sich einen quasi monarchischen Staatschef, ist aber auch schnell bereit, gegen ihn zu revoltieren und ihn einen Kopf kürzer zu machen, im echten und übertragenen Sinn. Zuletzt aber scheint der Protestelan erlahmt zu sein. Gross angekündigte Blockaden des Landes waren ein Flop.
Müde und desorientiert
Frankreich wirkt nach Ansicht von Beobachtern müde und desorientiert. Emmanuel Macron ist unbeliebt wie kein Präsident in der Fünften Republik. Am Montag beauftragte er Lecornu, bis Mittwochabend weiter nach einem Ausweg aus der Krise zu suchen. Im Fall des Scheiterns werde der Präsident «seine Verantwortung übernehmen», schrieb «Le Figaro».
Das kann vieles bedeuten. Wahrscheinlich ist, dass Macron mit dem erneuten Auftrag an Lecornu auf Zeit spielt, um seine Optionen zu sondieren. Er könnte erneut das Parlament auflösen, doch nach Neuwahlen ist eine rechte Mehrheit unter Führung des Rassemblement National denkbar. Es wäre ein Szenario, das Macron immer vermeiden wollte.
Mehrheit will Wechsel
Als Alternative könnte er den Forderungen der Linksfront nachgeben und einen Premier aus ihren Reihen ernennen. Oder er versucht es mit einer «Technokratenregierung». Schliesslich blieben ihm noch die Demission und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Macron hatte stets kategorisch betont, bis zum Ablauf seiner Amtszeit im Mai 2027 ausharren zu wollen.
Fragt sich nur, ob er dies noch lange durchhalten kann, denn die Mehrheit der Franzosen möchte einen Wechsel im Elysée-Palast. An Spekulationen über die Nachfolge des glücklosen Präsidenten mangelt es nicht. In den Umfragen klar an der Spitze stehen die beiden führenden Köpfe des RN, Marine Le Pen und Parteichef Jordan Bardella.
Chance für Retailleau?
Unklar ist, ob Le Pen antreten könnte, nachdem sie wegen Veruntreuung von EU-Geldern mit einem Politikverbot belegt wurde. Das Berufungsverfahren ist hängig. Bei Bardella stellt sich die Frage, ob die Franzosen einen 30-Jährigen an der Staatsspitze wollen. Ohnehin stossen die Rechtsradikalen nach wie vor bei weiten Teilen der Bevölkerung auf Unbehagen.
Das könnte eine Chance eröffnen für Bruno Retailleau, den bisherigen Innenminister und Chef der konservativen Républicains. Er steht am rechten Rand und hat sich als Migrations-Hardliner profiliert. Allerdings hat sich die Partei des zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy noch immer kaum von ihrem Absturz erholt.
Zerstrittene Linke
Ein Gerangel zeichnet sich bei der Linken ab. An der Spitze in den Umfragen steht Jean-Luc Mélenchon, der Chef der linksradikalen Partei La France Insoumise (LFI), doch bei der Mehrheit der Franzosen ist er noch unbeliebter als die «Lepenisten». Praktisch gleichauf liegt der Journalist Raphaël Glucksmann, der Sohn des Philosophen André Glucksmann.
Er führte die totgeglaubten Sozialisten als Spitzenkandidat zu einem überraschenden Erfolg bei der Europawahl. Allerdings hat Parteichef Olivier Faure ebenfalls Ambitionen. Und weder Mélenchon noch Glucksmann wollen an einer linken «Vorwahl» teilnehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Frankreichs zerstrittene Linke sich wieder einmal selbst im Weg steht.
Philippe will es wissen
Damit könnte sich trotz allem erneut eine Chance eröffnen für das liberale Zentrum und – ehemalige – Macron-Vertraute wie den früheren Regierungschef Gabriel Attal, Ex-Innenminister Gérald Darmanin oder Parlamentspräsidentin Yaël Braun-Pivet. Am besten schneidet in den Umfragen aber Édouard Philippe ab, Macrons erster Premierminister.
Seit er sich den «gescheckten» Bart (die Folge einer Autoimmunerkrankung) abrasiert hat und eine Brille trägt, erkennt man ihn kaum wieder. Philippe ist «nur» noch Bürgermeister von Le Havre und Chef der Kleinpartei Horizons. Dennoch bleibt er einer der beliebtesten Politiker Frankreichs. Aus seinen Ambitionen macht er kein Geheimnis.
Am Dienstagmorgen warnte er in einem Interview mit RTL vor der Neuwahl des Parlaments. Der Staatschef solle stattdessen einen Übergangs-Premier ernennen, der das Budget 2026 durch die Nationalversammlung bringt, und danach «sofort» die Präsidentschaftswahl ansetzen. Denn Frankreich könne sich nicht noch 18 Monate Stagnation leisten.
Ob Macron auf ihn hören wird? Er soll Édouard Philippe 2020 auch deshalb als Regierungschef «ersetzt» haben, weil er eifersüchtig war auf dessen Popularität. Sie garantiert noch keinen Wahlsieg, und auch ein Präsident Philippe dürfte es schwer haben, tragfähige Mehrheiten zu bilden. Aber eine anhaltende Agonie ist keine Option.