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Neue Verschwörungstheorie geistert durchs Netz – ein Überblick

February 11, 2023, Leeds, West Yorkshire, United Kingdom: Protesters carry placards through the shopping mall warning of 15 minute cities and the covid-19 jab. Freedom campaigners march across the cit ...
Eine Protestaktion gegen 15-Minuten-Städte in der nordenglischen Grossstadt Leeds. Bild: www.imago-images.de

15-Minuten-Städte: Diese verrückte neue Verschwörungserzählung geistert gerade durchs Netz

Im Internet kursiert eine neue Verschwörungserzählung, die das Stadtplanungskonzept der 15-Minuten-Nachbarschaften ins Visier nimmt. Sie hat ihren Ursprung in den Theorien der Anhänger des «Great-Reset»-Narrativs.
22.02.2023, 18:3623.02.2023, 14:06
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15-Minuten-Städte? Ja, 15-Minuten-Städte gibt es. Es handelt sich dabei um den Namen eines Stadtplanungskonzeptes, das gerade an Fahrt gewinnt. Grundsätzlich geht es darum, dass alles, was man zum Leben benötigt, in 15 Minuten erreicht werden kann. Das Konzept wird derzeit in verschiedenen Grossstädten weltweit diskutiert und teils auch umgesetzt.

So weit, so bequem. Doch Gegner von 15-Minuten-Städten kritisieren die Idee jetzt mit kruden Verschwörungserzählungen. Ein Überblick:

Die Idee hinter 15-Minuten-Städten

Zu den grundlegenden Dienstleistungen, die für die Einwohnerinnen und Einwohner in 15 Minuten zu Fuss oder per Velo von deren Zuhause aus erreichbar sein sollen, gehören etwa Geschäfte, Schulen, Bibliotheken, Gesundheitseinrichtungen und Parks. So werden 15-Minuten-Städte quasi zu selbstständigen, funktionierenden Dörfern inmitten von Städten.

Das erklärte Ziel des Ansatzes ist es, die Auto-Abhängigkeit zu verringern, nachhaltiges Leben und Wohnen zu fördern und eine Rückkehr zu einer lokalen Lebensweise zu ermöglichen.

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt wurde erstmals von einem Wissenschaftler der Pariser Sorbonne-Universität formuliert – im Jahr 2016. Es überrascht daher nicht, dass gerade Paris dabei ist, sich zu einer 15-Minuten-Stadt zu entwickeln. Und auch andere Städte weltweit haben gerade während der Coronapandemie begonnen, das Konzept vermehrt in die Realität umzusetzen.

Die Verschwörungstheorie

Das Konzept ruft aber auch Kritiker auf den Plan. Einige davon argumentieren mit kruden Argumenten, fernab der Realität. Rund um die Idee entwickelte sich nämlich in jüngerer Vergangenheit im Netz eine neue Verschwörungserzählung, wie die Zeitschrift «Wired» anhand eines Beispiels skizziert:

Die Geschichte beginnt mit Carla Francome. Sie wohnt im Norden Londons und setzt sich dort für bessere Velowege ein. Francome befürwortet das Konzept der 15-Minuten-Städte und hat kürzlich in einem Twitter-Thread über die Vorteile, die die Idee aus ihrer Sicht mitbringt, geschrieben. So hat sie unter anderem erklärt, wie sich die Lebensqualität ihres 78-jährigen Vaters und anderer älterer Menschen verbessert, wenn diese alle nötigen Bedürfnisse in maximal 15 Minuten Distanz von ihrer Wohnung aus erfüllen können.

Die Reaktionen auf ihre Ausführungen waren für Francome überwältigend – allerdings nicht im positiven Sinne. Sie wurde überhäuft mit Kritik, die auf höchst fragwürdigen Theorien basiert. So schrieb ein Twitter-Nutzer:

«15-Minuten-Städte sind keine Freiheit, sondern sozialistische Gefängnisse.»

Auch abstruse Quervergleiche mit den Zuständen während der Nazi-Herrschaft in Deutschland und Polen finden sich unter den Antworten:

«Während der Nazi-Besatzung gab es in Polen bereits 15-Minuten-Städte … 1941 führten die Nazis die Todesstrafe für das Ausgehen ein.»

Im Thread von Francome finden sich zahlreiche vergleichbare Aussagen.

Woher die Verschwörungserzählungen kommen

Die Londonerin Francome ist durch ihre harmlosen Statements also mitten in einen Strudel von verschwörerischen Metaerzählungen rund um 15-Minuten-Städte geraten.

Doch woher kommen diese Verschwörungserzählungen?

Viele gehen auf das Narrativ des «Great Reset» zurück. Zu diesem gehört die Idee, dass eine geheime Elite plant, die aktuelle Weltordnung durch eine neue zu ersetzen, um die Weltbevölkerung zu kontrollieren. Unter anderem soll Privateigentum abgeschafft werden.

Besonderen Auftrieb erhielt die Erzählung während der Coronapandemie. Anhänger des Great-Reset-Narrativs sahen in den Massnahmen zur Einschränkung der Pandemie den ersten grossen Schritt zur Einschränkung der persönlichen Freiheiten.

News Bilder des Tages Reutlingen Themenbilder: Unterwegs in Reutlingen, 28.01.2023, Themenbilder: Unterwegs in Reutlingen, Querdenker Demo in der Wilhelmstrasse. Great Reset Stoppen, 28.01.2023, *** R ...
Demonstration gegen den «Great Reset» im deutschen Reutlingen.Bild: www.imago-images.de

Die Behauptungen bezüglich der 15-Minuten-Städte wurden also in das Metanarrativ des «Great Reset» eingebettet. Eine Massnahme der geheimen Elite, die persönlichen Freiheiten der Menschen zu beschneiden, ihnen ihre Autos wegzunehmen, ihnen vorzuschreiben, wo sie sich in einer Stadt bewegen oder was sie für Produkte konsumieren dürfen.

Wie Wired schreibt, bieten die Behauptungen Anknüpfungspunkte für Anhänger verschiedenster Gruppen mit bedenklichen Ansichten: Anti-Lockdown-Aktivisten, Impfgegner, QAnon-Anhänger, Antisemiten, Klimaleugner und die extreme Rechte.

Bekannte Personen nähren das Narrativ

Dass die Behauptungen bezüglich der 15-Minuten-Nachbarschaften in jüngster Zeit massiv an Popularität gewonnen haben, liegt auch daran, dass bekannte Persönlichkeiten die Narrative weiterverbreiten. So der erzkonservative und umstrittene kanadische Autor Jordan Peterson, der sich auf Twitter dazu äusserte. Peterson spricht dabei ebenfalls von einer «Globalisten-Agenda», die hinter dem Stadtplanungskonzept stecken soll.

Insbesondere in Grossbritannien stützen auch Politiker vom rechten Rand das Narrativ. So verwies zum Beispiel Nick Fletcher, ein Abgeordneter der regierenden konservativen Tories, auf die Verschwörungserzählung, als er im britischen Unterhaus eine Frage zu 15-Minuten-Städten stellte. Er nannte diese ein «internationales sozialistisches Konzept, das uns unsere persönliche Freiheit wegnehmen will».

Das sagen Experten über die Verschwörungstheorie

Das Unterhaus quittierte Fletchers Frage mit Gelächter und zeigte damit deutlich, wie absurd die Verknüpfung des Stadtentwicklungskonzepts mit dem Verschwörungsnarrativ des «Great Reset» ist.

«Ich denke, dass die Leute oft die Kompetenz der Behörden überschätzen, diese Art von Verschwörungen durchzuführen.»
Bezirkspolitiker Areeq Chowdhury

Ein Rätsel, wie so viele Leute der Theorie anhängen können, ist es auch für Areeq Chowdhury. Chowdhury ist Labour-Politiker und Ratsmitglied seines Bezirks im Ostlondoner Stadtteil Newham, wo er einige Ideen des 15-Minuten-Konzepts implementiert hat. Chowdhury sagt gegenüber Wired:

«Die 15-Minuten-Nachbarschaft hat absolut nichts mit Überwachung oder Kontrolle zu tun. Es geht nur darum, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen und aktives Reisen zu fördern.»

Ähnlich äussert sich auch Ernie Piper, Analyst bei der britischen Firma Logically, die sich auf Faktenprüfung und die Bekämpfung von Desinformation spezialisiert hat, gegenüber dem Magazin: Es gebe keinen Grund, weshalb eine Stadtplanungsinitiative irgendetwas mit solchen Verschwörungsideen zu tun haben soll. Die Idee des «Great Reset» biete aber einen Meta-Verschwörungsrahmen, an dem verschiedene Gruppen teilnehmen könnten. «Es ist ein bisschen wie ein Alternative-Reality-Game – jeder kann seine eigene Version der Ereignisse interpretieren», so Piper.

Bezirkspolitiker Chowdhury bringt die Absurdität der Theorien auf den Punkt: «Ich denke, dass die Leute oft die Kompetenz der Behörden überschätzen, diese Art von Verschwörungen durchzuführen.»

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327 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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moccabocca
22.02.2023 18:46registriert Juli 2015
Ich habe langsam den Eindruck, dass es mit der Intelligenz der Menschheit (im Allgemeinen) nicht gut bestellt ist.
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Jakob Meier
22.02.2023 19:01registriert November 2020
Ich haba das Argument der Gegner der 15-min-Städte nach 2x nachlesen immer noch nicht ganz verstanden.
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mrmikech
22.02.2023 18:52registriert Juni 2016
Die Dauerempörten werden immer verrückter. Es wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre. Internetentzug würde dieser Menschen wieder die Augen öffnen. Geh doch mal raus, mach ein Tanzkurs oder so. Das leben ist schön.
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