15-Minuten-Städte? Ja, 15-Minuten-Städte gibt es. Es handelt sich dabei um den Namen eines Stadtplanungskonzeptes, das gerade an Fahrt gewinnt. Grundsätzlich geht es darum, dass alles, was man zum Leben benötigt, in 15 Minuten erreicht werden kann. Das Konzept wird derzeit in verschiedenen Grossstädten weltweit diskutiert und teils auch umgesetzt.
So weit, so bequem. Doch Gegner von 15-Minuten-Städten kritisieren die Idee jetzt mit kruden Verschwörungserzählungen. Ein Überblick:
Zu den grundlegenden Dienstleistungen, die für die Einwohnerinnen und Einwohner in 15 Minuten zu Fuss oder per Velo von deren Zuhause aus erreichbar sein sollen, gehören etwa Geschäfte, Schulen, Bibliotheken, Gesundheitseinrichtungen und Parks. So werden 15-Minuten-Städte quasi zu selbstständigen, funktionierenden Dörfern inmitten von Städten.
Das erklärte Ziel des Ansatzes ist es, die Auto-Abhängigkeit zu verringern, nachhaltiges Leben und Wohnen zu fördern und eine Rückkehr zu einer lokalen Lebensweise zu ermöglichen.
Das Konzept der 15-Minuten-Stadt wurde erstmals von einem Wissenschaftler der Pariser Sorbonne-Universität formuliert – im Jahr 2016. Es überrascht daher nicht, dass gerade Paris dabei ist, sich zu einer 15-Minuten-Stadt zu entwickeln. Und auch andere Städte weltweit haben gerade während der Coronapandemie begonnen, das Konzept vermehrt in die Realität umzusetzen.
Das Konzept ruft aber auch Kritiker auf den Plan. Einige davon argumentieren mit kruden Argumenten, fernab der Realität. Rund um die Idee entwickelte sich nämlich in jüngerer Vergangenheit im Netz eine neue Verschwörungserzählung, wie die Zeitschrift «Wired» anhand eines Beispiels skizziert:
Die Geschichte beginnt mit Carla Francome. Sie wohnt im Norden Londons und setzt sich dort für bessere Velowege ein. Francome befürwortet das Konzept der 15-Minuten-Städte und hat kürzlich in einem Twitter-Thread über die Vorteile, die die Idee aus ihrer Sicht mitbringt, geschrieben. So hat sie unter anderem erklärt, wie sich die Lebensqualität ihres 78-jährigen Vaters und anderer älterer Menschen verbessert, wenn diese alle nötigen Bedürfnisse in maximal 15 Minuten Distanz von ihrer Wohnung aus erfüllen können.
Some thoughts on living in #15minutecities from the perspective of a 78-year old, my dad Colin.
— Carla Francome (@carlafrancome) February 12, 2023
Dad used to live a 30-minute drive away, but after lockdown, we encouraged him to sell up and buy a place near us, in Bounds Green. He hasn’t had a car in 10 years, but … 1/6 pic.twitter.com/ptueJSwBG8
Die Reaktionen auf ihre Ausführungen waren für Francome überwältigend – allerdings nicht im positiven Sinne. Sie wurde überhäuft mit Kritik, die auf höchst fragwürdigen Theorien basiert. So schrieb ein Twitter-Nutzer:
Auch abstruse Quervergleiche mit den Zuständen während der Nazi-Herrschaft in Deutschland und Polen finden sich unter den Antworten:
Im Thread von Francome finden sich zahlreiche vergleichbare Aussagen.
Die Londonerin Francome ist durch ihre harmlosen Statements also mitten in einen Strudel von verschwörerischen Metaerzählungen rund um 15-Minuten-Städte geraten.
Doch woher kommen diese Verschwörungserzählungen?
Viele gehen auf das Narrativ des «Great Reset» zurück. Zu diesem gehört die Idee, dass eine geheime Elite plant, die aktuelle Weltordnung durch eine neue zu ersetzen, um die Weltbevölkerung zu kontrollieren. Unter anderem soll Privateigentum abgeschafft werden.
Besonderen Auftrieb erhielt die Erzählung während der Coronapandemie. Anhänger des Great-Reset-Narrativs sahen in den Massnahmen zur Einschränkung der Pandemie den ersten grossen Schritt zur Einschränkung der persönlichen Freiheiten.
Die Behauptungen bezüglich der 15-Minuten-Städte wurden also in das Metanarrativ des «Great Reset» eingebettet. Eine Massnahme der geheimen Elite, die persönlichen Freiheiten der Menschen zu beschneiden, ihnen ihre Autos wegzunehmen, ihnen vorzuschreiben, wo sie sich in einer Stadt bewegen oder was sie für Produkte konsumieren dürfen.
Wie Wired schreibt, bieten die Behauptungen Anknüpfungspunkte für Anhänger verschiedenster Gruppen mit bedenklichen Ansichten: Anti-Lockdown-Aktivisten, Impfgegner, QAnon-Anhänger, Antisemiten, Klimaleugner und die extreme Rechte.
Dass die Behauptungen bezüglich der 15-Minuten-Nachbarschaften in jüngster Zeit massiv an Popularität gewonnen haben, liegt auch daran, dass bekannte Persönlichkeiten die Narrative weiterverbreiten. So der erzkonservative und umstrittene kanadische Autor Jordan Peterson, der sich auf Twitter dazu äusserte. Peterson spricht dabei ebenfalls von einer «Globalisten-Agenda», die hinter dem Stadtplanungskonzept stecken soll.
Those of you who think concern about the globalist agenda behind 15 minute cities is misplaced should read the source documents: https://t.co/ExBsgXSz1J pic.twitter.com/d3vxRgA7zo
— Dr Jordan B Peterson (@jordanbpeterson) February 20, 2023
Insbesondere in Grossbritannien stützen auch Politiker vom rechten Rand das Narrativ. So verwies zum Beispiel Nick Fletcher, ein Abgeordneter der regierenden konservativen Tories, auf die Verschwörungserzählung, als er im britischen Unterhaus eine Frage zu 15-Minuten-Städten stellte. Er nannte diese ein «internationales sozialistisches Konzept, das uns unsere persönliche Freiheit wegnehmen will».
Das Unterhaus quittierte Fletchers Frage mit Gelächter und zeigte damit deutlich, wie absurd die Verknüpfung des Stadtentwicklungskonzepts mit dem Verschwörungsnarrativ des «Great Reset» ist.
Ein Rätsel, wie so viele Leute der Theorie anhängen können, ist es auch für Areeq Chowdhury. Chowdhury ist Labour-Politiker und Ratsmitglied seines Bezirks im Ostlondoner Stadtteil Newham, wo er einige Ideen des 15-Minuten-Konzepts implementiert hat. Chowdhury sagt gegenüber Wired:
Ähnlich äussert sich auch Ernie Piper, Analyst bei der britischen Firma Logically, die sich auf Faktenprüfung und die Bekämpfung von Desinformation spezialisiert hat, gegenüber dem Magazin: Es gebe keinen Grund, weshalb eine Stadtplanungsinitiative irgendetwas mit solchen Verschwörungsideen zu tun haben soll. Die Idee des «Great Reset» biete aber einen Meta-Verschwörungsrahmen, an dem verschiedene Gruppen teilnehmen könnten. «Es ist ein bisschen wie ein Alternative-Reality-Game – jeder kann seine eigene Version der Ereignisse interpretieren», so Piper.
Bezirkspolitiker Chowdhury bringt die Absurdität der Theorien auf den Punkt: «Ich denke, dass die Leute oft die Kompetenz der Behörden überschätzen, diese Art von Verschwörungen durchzuführen.»