Es ist noch keine Woche her, da war der Arbeitsplatz von Simon Braun ein riesiges Trümmerfeld. Gemeinsam mit über achtzig anderen Helferinnen und Helfern aus der Schweiz suchte er nach dem heftigen Erdbeben in der Türkei und in Syrien nach Überlebenden. Seit einigen Tagen ist er wieder zurück an seinem eigentlichen Arbeitsplatz, dem Schreibtisch. Im Gespräch lässt der 38-Jährige die intensive Woche Revue passieren.
Sie beginnt mit einer SMS-Nachricht am Montagmorgen, dem 6. Februar, um 5 Uhr früh. Das Schweizerische Korps für humanitäre Hilfe (SKH) sucht nach Mitgliedern, die als Teil des Bergungsteams noch am Tag des schweren Erdbebens in die Türkei reisen. Um die Sicherheit für das eigene Team vor Ort zu gewährleisten und die Einsturzgefahr noch bestehender Gebäude abschätzen zu können, bietet das Korps auch zwei Bauingenieure auf. Einer von ihnen ist der Winterthurer Simon Braun.
Nach einer kurzen Absprache mit seiner Ehefrau und dem Arbeitgeber sagt Braun zu. Es ist sein erster Einsatz als Mitglied des SKH, dem er erst seit 2022 angehört. «Ich beschäftige mich beruflich intensiv mit Erdbebenanalysen von bestehenden Gebäuden in der Schweiz. Für mich war also rasch klar, dass ich hier als Teil des Teams einen Beitrag leisten kann», erzählt Braun.
Innert weniger Stunden hat die Rettungskette Schweiz ihr Team zusammengestellt, es fliegt noch am Montagabend ausgestattet mit Zelten, Bergungsgeräten und Sanitätsmaterial in die Türkei. Die Nacht verbringen Braun und die anderen Helfer am Flughafen Adana, von wo aus sie am frühen Dienstagmorgen in die Stadt Antakya gefahren werden. Etwas ausserhalb der Stadt richtet die Rettungskette ein Lager für die Helferinnen und Helfer ein. Geschlafen wird in Zelten.
Antakya ist Teil der Provinz Hatay, einem Gebiet, in dem das Erdbeben besonders grosse Schäden angerichtet hat. «Als wir uns am Dienstag ein Bild der Lage machten, herrschte ein einziges Chaos. Tausende Leute liefen in den Strassen umher, schrien, weinten und suchten verzweifelt nach Angehörigen», blickt Braun zurück. «Das Ausmass der Zerstörung ist unvorstellbar riesig.»
Dem Schweizer Team wird ein Stadtteil zugeordnet, in welchem es mit Bohrmaschinen, Spitzhammer und der Hilfe von Suchhunden unter den Trümmern nach verborgenen Menschen suchen soll. Bevor die Bergungseinsätze starten, beurteilt Braun jeweils die Sicherheit des Schadenplatzes: «Ich habe überprüft, welche Gebäude potenziell einsturzgefährdet sind – auch wegen der Nachbeben – und welche Gebiete zu gefährlich für Suchaktionen sind.» Im Zentrum sei dabei immer die Sicherheit des Helferteams gestanden, so Braun.
Während vier Tagen sucht das Team in 12-Stunden-Schichten – aufgeteilt in zwei Gruppen und bei eisiger Kälte – nach Überlebenden. Die Helfer gehen Hinweisen von Angehörigen nach, reagieren aber auch auf akustische Zeichen von Überlebenden, wie beispielsweise Rufe oder ein Klopfen. Braun kommt an seine Grenzen, er ist nicht nur einmal den Tränen nahe: «Es gab eine Situation, da wussten wir, dass sich unter einer Gebäudedecke eine Mutter mit ihrem Baby sowie dem Grossvater befand. Doch das Tragwerk sah sehr schlecht aus, ich konnte das Risiko eines Einsturzes nicht ausschliessen.» Nach langem Begutachten entscheidet sich Braun dafür, sogenannte Spriesse unter der Decke zu platzieren, um so den Zugang zu den Verschütteten zu stabilisieren. Die Suche endet erfolgreich: Alle drei können gerettet werden.
Was Braun besonders in Erinnerung bleibt, ist die Dankbarkeit der Überlebenden: «Als wir eine Mutter mit ihrem Baby auf einer Wolldecke aus den Trümmern trugen, hielt sie mich plötzlich an der Hand. Das war ein unbeschreibliches Gefühl, die Dankbarkeit dieser Frau und der Menschen vor Ort war riesig.» Im Gegenzug muss Braun aber auch lernen, mit Enttäuschung umzugehen: «Wenn wir einem Angehörigen sagen mussten, dass die Suche zu gefährlich oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, dann hat mich das jedes Mal mitgenommen.»
Das Bergungsteam ist sich bewusst: Tag für Tag sinken die Überlebenschancen. Bis am Freitagabend kann die Schweizer Rettungskette 11 Menschen bergen, darunter zwei Säuglinge. «Auch wenn wir sehr viele traurige Sachen erlebt haben. Das Gefühl, diesen Menschen eine Zukunft schenken zu können, ist unglaublich», sagt Braun.
Seit seiner Rückkehr am vergangenen Montag hat der Bauingenieur das Erlebte in Gesprächen mit anderen Teammitgliedern und seinem Umfeld «ziemlich gut verarbeiten können». Nur etwas versetzt Braun noch immer in Alarmbereitschaft: «Wenn etwas wackelt, bin ich sofort wieder im Einsatzmodus.» Dennoch ist für Braun klar: «Ich will mein Engagement in Zukunft weiterführen. Auch wenn diese Einsätze um einiges riskanter und emotional belastender sind als meine Arbeit im Büro, macht es mich glücklich, auf diese Weise Menschen in Not helfen zu können.» (aargauerzeitung.ch)