Es gibt sie doch, die Zeitmaschine. Ich habe sie gefunden. Auf der Insel Mayotte. Das 101. Departement Frankreichs. Am Ende der Welt. Zehn Flugstunden südöstlich von Paris. Am nördlichen Rand der Strasse von Mosambik im Indischen Ozean zwischen der Nordspitze von Madagaskar und dem afrikanischen Festland.
Zuerst geht die Reise zurück zum Anbeginn der Zeiten. Genau so muss es am Abend des fünften Schöpfungstages in Europa gewesen sein. Als Gott die Vögel und die Tiere des Wassers erschaffen hatte und sah, dass es gut war.
Fahler Mondschein. Ein urweltliches Geschöpf kriecht aus dem Wasser und hinterlässt im Sand eine Spur wie ein Panzerfahrzeug. Und dann noch eines. Es sind Meeresschildkröten, die ihre Eier im Sand vergraben werden.
Am Tag kommen die freundlichen Geistertiere. Die Makis. Lemuren. Sie sind heilig. Weil in ihnen die Seelen jener weiterleben, die keine ewige Ruhe finden können.
Die Makis sind nicht frech wie Affen. Sie bleiben höflich im Türrahmen unseres Bungalows stehen, fragen in einer gurrenden Sprache, die an Aliens gemahnt, ob der Herr daran gedacht hat, wiederum verbotenerweise vom Frühstück eine Banane mitzubringen. Er hat. Und ein riesiger Flughund hängt kopfunter im Geäst des Baumes, blinzelt schlau, als wolle er sagen: «Na, hat der Herr heute Morgen seine Yoga-Übungen auch schon gemacht?»
Der tiefe Süden von Mayotte ist ein Paradies. Vom Tourismus praktisch unberührt. Mit nur einem wirklich guten Hotel: dem Jardin Maoré am Strand von Ngouja bei Kani Keli. Ein Garten Eden unter Palmen direkt am Strand einer der grössten, von einem Korallenriff begrenzten Lagunen der Erde. Die freundlichen Makis gehören sozusagen zum Personal. Einer jener 100 Orte, die man im Leben gesehen haben sollte.
Die Reise geht aber auch weit hinein in die kommenden Jahre. Der Ausflug in die Zukunft beginnt auch hier im Garten Eden des Südens. 29 Mann der Fremdenlegion kommen zur Erholung in den Jardin Maoré. Sie lagern in Zelten unter Palmen hinter der Hotelanlage. Zum Essen rücken sie ins Restaurant ein. Bald ist es mit der himmlischen Ruhe vorbei. Kilometerweit hallen raue Soldatenlieder aufs Meer hinaus. Meine Freundin, sie ist wirklich taff, geht zum Tisch hinüber und mahnt energisch zivilisatorisches Benehmen an. Augenblicklich wird es still.
Zehn Minuten später steht Eric, der Kommandant, an unserem Tisch. Mit einer Flasche edelstem Wein. Er setzt sich zu uns, entschuldigt sich höflich und flüstert verschwörerisch: «Welch ein Glück Monsieur, dass nicht Sie reklamiert haben. Sie würden sich jetzt gefesselt und geknebelt in einem Boot weit, weit draussen in der Lagune wiederfinden.»
Der Abend endet in einem Trinkgelage mit den Fremdenlegionären. An der Hotelbar. Der Barkeeper ist längst geflüchtet. Aber Kommandant Eric achtet darauf, dass alles korrekt abgerechnet wird. Wir singen zur Soundanlage melancholische Lieder von Elvis Presley oder Joe Dassin, spendieren auch eine Runde und tauchen ein in eine Welt, so bizarr wie Hollywood.
Die Männer erzählen von der Magie einer Kameradschaft, von der sie nie mehr loskommen. Weil sie im richtigen Leben nicht existiert. Diese absolute Verlässlichkeit in Todesgefahr. In Afghanistan. In Mali. An der Elfenbeinküste. Sie kommen aus der Ukraine, Nepal, Ungarn, Südafrika, der Mongolei, China und Frankreich. Jeder bekommt erstens den französischen Pass und zweitens eine komplett neue Identität mit neuem Namen. Wer gesündigt hat und es schafft, in die Fremdenlegion aufgenommen zu werden, ist fortan vor allen Verfolgungen sicher. Über ihre militärischen Vorbilder und politischen Überzeugungen legen wir den Mantel des Schweigens.
Item, als die letzten Schildkröten wieder ins Meer zurückgekehrt sind, so gegen 03.00 Uhr, verabschieden wir uns. Feierabend an der Bar war offiziell 23.00 Uhr. Aber etwas treibt mich auch am nächsten Tag noch um. Ich hatte Eric gefragt, was denn die Fremdenlegion ausgerechnet in diesem Paradies zu schaffen habe. Es kann ja wohl nicht sein, dass seine Männer für ein paar Tage Erholung an dieses schöne Ende der Welt geflogen werden. Es muss sich um einen Einsatz handeln. Er raunt knurrig «les immigrants» und will nicht so recht über das Thema parlieren.
Ich bin kein Zyniker und rapportiere nur, was ich sehe und was man mir erzählt. Man zeihe mich also nicht der politischen Unkorrektheit. Im Jahre 1974 stimmen die Bewohner der vier Komoren-Inseln über den Verbleib bei der Kolonialmacht Frankreich oder die Selbständigkeit ab. Drei votieren für die Unabhängigkeit und bilden heute die Union der Komoren. Nur Mayotte bleibt bei Frankreich und ist deshalb heute das 101. Departement Galliens und seit dem 1. Januar 2014 als OMR (Outermost Region) ein Teil der EU.
Mayotte profitiert reichlich von den Segnungen des «Mutterlandes». Die anderen Inseln sind in Armut versunken. Wer kann, entflieht dem Elend und versucht ins gelobte Land nach Mayotte zu gelangen.
Am Strand treffe ich einen Arzt aus Paris. Er ist mit seiner Familie hier und erzählt, er komme jeweils für zwei Monate im Sommer hierher, um in der Geburtenabteilung des Spitals in der Hauptstadt Mamoudzou zu arbeiten. Er bekomme für diesen Einsatz eine vierzigprozentige Lohnerhöhung plus bezahlten Flug und Unterkunft für die ganze Familie. «Wir haben hier an unserem Spital eine grössere Geburtenabteilung als in der Stadt Paris. Weil Kinder, die hier geboren werden, automatisch die französische Staatsbürgerschaft bekommen, setzen die Frauen von den anderen Inseln alles daran, zu uns zu kommen.»
Eine Überfahrt – die nächstgelegene der drei Komoreninseln ist weniger als 50 Kilometer entfernt – sei für den Gegenwert einer Ziege zu organisieren. Und wenn das Kind einmal zur Welt gekommen sei, könne gleich der Antrag für Familiennachzug gestellt werden.
Die illegale Immigration ist auf Mayotte offenbar ein Problem. Ein Drittel der Einwohner seien Sans-Papiers. Und es werden immer mehr. Tatsächlich wird die Fremdenlegion eingesetzt, um regelmässig die Insel nach ungebetenen Gästen zu durchkämmen und sie auf die Nachbarinseln zurückzubringen. Wie das geht, kann oder mag partout niemand erzählen. Eric, der Kommandant der Fremdenlegionäre, hatte mir anvertraut, die Polizei könne das nicht machen, die wäre nicht taff genug und überfordert. Im März ist bei einer solchen Aktion tatsächlich ein Fremdenlegionär ums Leben gekommen. Frankreichs Elitetruppen gegen Immigranten. Ist das das Europa von 2090?
Die dominierende Religion auf Mayotte ist ein folkloristischer Islam, gewürzt mit Tanz, Fröhlichkeit, Wein und viel Erotik. Und die Gleichberechtigung der Frau ist längst verwirklicht. Zwar gilt für Recht und Gesetz der Code civil. Wie in Frankreich.
Aber im Alltag wird nach altem Brauch gefuhrwerkt. Das Matriarchat (= Herrschaft der Frau) ist die traditionelle hiesige Gesellschaftsform. Mayotte ist also beim Thema Gleichberechtigung und Frauenförderung dem Rest der EU um Jahrzehnte voraus. Vielleicht wird es im Europa des Jahres 2090 einmal so sein. Die Frau gebietet über den Familienbesitz. Geerbt wird von der Mutter auf die Tochter.
Weil die Frau den Mann einfach aus dem Haus jagen kann, wenn er ihr nicht mehr passt, wird die Polygamie (= Vielehe) praktiziert. Damit der Mann im Krisenfall stets irgendwo ein Dach über dem Kopf hat, heiratet er mehrere Frauen. Offiziell kann er aber nur eine heiraten und so sind die vielen nach EU-Recht unehelichen Kinder ein Problem geworden.
Die Behörden haben grosse Sorgen. Die Kriminalität rund um die Hauptstadt Mamoudzou (hier leben 60'000 der etwas mehr als 200'000 Einwohner) nehme immer mehr zu. Vieles, was nicht niet- und nagelfest ist, manchmal sogar Motorroller und Autos, werde zu den anderen Komoreninseln abtransportiert. Der Druck durch die illegale Einwanderung provoziert ein politisches Reizklima und Rassismus. Die soziale Ungerechtigkeit löst ab und an wochenlange, wilde Streiks aus, bei denen die wenigen Strassen blockiert werden und die einheimische Wirtschaft zum Stillstand gebracht wird.
Auch deshalb komme der Tourismus nicht in Gange. Luc, der aus Frankreich hierher gekommen ist und sich mit einem Café einen Traum verwirklicht hat, klagt, er könne nur noch überleben, weil er das Café mit seiner Familie betreibe und keine Löhne zahlen müsse.
Die illegalen Einwanderer werden jedoch für die Parfümindustrie gebraucht. Die Blüten des Ylang-Ylang-Baumes müssen von Hand gepflückt werden. Und dafür eignen sich die illegal eingereisten Arbeitskräfte. Sie können elendiglich untergebracht und miserabel bezahlt werden.
Wer jedoch den französischen Pass besitzt, dem geht es formidabel und der profitiert von den Segnungen des europäischen Sozialstaates. Alle freuen sich, dass ab 2020 endlich auch auf Mayotte die gleichen Ansätze für Arbeitslosenentschädigungen und Sozialhilfe gelten sollen wie in Frankreich.
Wir reisen aus dem Norden wieder zurück in den paradiesischen Süden. Und als am nächsten Morgen der Maki wieder freundlich fragt, ob der Herr verbotenerweise eine Banane vom Frühstück mitgebracht habe, denke ich: Ein «Folklore-Islam» als wichtigste Religion, die absolute Herrschaft der Frau, Elitesoldaten gegen Immigranten, immer grössere soziale Gegensätze, paradiesische Flecken und Elend auf kleinstem Raum, ein immerwährender Sommer – was für eine faszinierende, zerrissene, gegensätzliche, verwirrende, widersprüchliche Welt.
Der Kulturpessimist Rolf Peter Sieferle («Finis Germania») hätte wahrscheinlich gesagt: das Europa im Jahre 2090.