Der Platz der Märtyrer im Zentrum von Beirut hat schon viel gesehen: Die Exekution arabischer Nationalisten, die 1916 gegen das damals herrschende Osmanische Reich aufbegehrten. Den blutigen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 im Libanon, als der Platz Teil der Demarkationslinie zwischen den verfeindeten Ost- und Westteilen der Stadt wurde.
2019 schliesslich die Proteste gegen Libanons als korrupt geltende Regierung. Und nun die Geflüchteten mit ihren Matratzen und behelfsmässigen Zelten, die vor dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz aus dem Südlibanon und den südlichen Vorstädten Beiruts gekommen sind.
Am 23. September begann das israelische Militär seine Kampagne im Süden des Landes zu intensivieren, und rief die Bewohnerinnen und Bewohner Dutzender Orte auf, diese zu evakuieren. Hunderttausende folgten der Anweisung und flohen über die vollkommen überfüllte Küstenautobahn Richtung Norden.
Nach dem gezielten Angriff auf Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, der in einem Bunker im Süden Beiruts durch einen israelischen Luftangriff getötet wurde, begann auch aus den umliegenden schiitisch geprägten Vorstädten, Dahiyeh genannt, der Exodus. Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind im Libanon mittlerweile etwa 1,2 Millionen Menschen auf der Flucht.
Unter den Menschen, die in der Nacht nach dem Tod des Hisbollah-Chefs ihr Zuhause verliessen, ist auch Nasser. Er möchte nur seinen Vornamen nennen. Mit seiner Familie floh er aus Südbeirut Richtung Norden. Auch er fand sich in einem Park neben dem Platz der Märtyrer wieder.
Mit seiner Ehefrau und den vier Kindern – das Jüngste braucht noch Milch und Windeln – schläft er dort auf einer Decke. Hinter der Familie liegen ein Koffer und ein Rucksack. Es ist alles, was sie in der Eile der Flucht in der Nacht schnell einpacken und mitnehmen konnten.
Ein Auto hat die Familie nicht, also flüchteten sie zu Fuss entlang der Autobahn Richtung Norden, vorbei am Stadion von Beirut, das genau an der Grenze zwischen der Hauptstadt und der Vorstadt liegt. Vorbei an Cola, einem Kreisverkehr an dem sonst die Busse Richtung Südlibanon abfahren.
Nur wenige Tage nach dem Luftangriff auf Nasrallah flog das israelische Militär auch dort einen Angriff, auf Mitglieder der Volksfront zur Befreiung Palästinas. Vier Menschen starben, in dem Gebäude ist ein Stockwerk zerstört, in den Etagen darunter und darüber sind die Fenster zerborsten und Teile des Mauerwerkes weggesprengt. Es liegt heute verlassen da, auch seine Bewohner sind wohl geflohen.
Wer auf der Autobahn aus Südbeirut stur gen Norden fährt, landet irgendwann am Platz der Märtyrer. Dort, in der Mitte der Stadt, fühlen sich viele vor den israelischen Luftangriffen erst einmal sicher. Im Laufe der Tage nach dem Angriff auf Nasrallah lehrten sich der Platz und die umliegenden Flächen bereits wieder ein wenig.
Manche kommen bei Verwandten unter, andere finden eine Wohnung oder eine Notunterkunft. Doch Nasser und seine Familie blieben zunächst. Er wisse nicht wohin, sagt er. Und weil er seine Arbeit in einer Plastikfabrik in Südbeirut verloren hat, könnte er eine Wohnung in Nordbeirut oder anderen recht sicheren Gebieten des Landes nicht bezahlen.
Andere haben mehr Glück, etwa Jinan. Sie ist ebenfalls aus dem Süden des Landes geflüchtet, aus der Nähe der Stadt Sour, nur etwa 25 Kilometer von der Grenze zu Israel entfernt. Nach dem 23. September kam sie zunächst bei Freunden unter, im Beiruter Viertel Tayouneh. Direkt angrenzend beginnt Chiyah, eine Nachbarschaft von Dahiyeh. Als der Krieg immer näher kam, verliess Jinan ihr temporäres Zuhause erneut.
Mitte Oktober sitzen sie und ihre Freundin Janna, die sie in Tayouneh aufgenommen hatte, gemeinsam in einer zur Notunterkunft gewordenen Schule in einem Dorf in den libanesischen Bergen. Es ist christlich besiedelt, die Hisbollah nicht präsent. Dass der Krieg bis hierhin vorrückt, gilt deshalb zumindest bislang als unwahrscheinlich. «Wir sind wie eine Familie», sagen beide, «ganz alte Freunde». Nun leben sie gemeinsam in einem grossen Klassenzimmer, zusammen mit neun anderen Familienmitgliedern.
Beide sind froh, hier gelandet zu sein: Es gibt Matratzen, Decken, Kissen und einige Bettgestelle. Im Keller gibt es eine Waschmaschine, organisiert von der katholischen Organisation, welche die Unterkunft mitbetreut. In der Notunterkunft sind auch christliche Familien untergebracht.
Probleme zwischen den Religionsgruppen gäbe es keine, sagt Janna, alle verhielten sich sehr respektvoll. An einem der vergangenen Sonntage erhielten sie sogar den christlichen Segen – ein schönes, neues Erlebnis, sagen beide.
Neben den Freundinnen sind etwa 140 Menschen in der Notunterkunft untergebracht. Damit ist sie ausgelastet – die beiden und ihre Familien hatten Glück. «Man hört hier oben nichts vom Krieg», sagt Janna – ganz anders als in Tayouneh.
Und sie hat noch in einem anderen Punkt Glück: Im Gegensatz zu vielen anderen Geflüchteten hat sie ihren Job als Journalistin bei einem Onlineportal behalten. In der Unterkunft gibt es kein WLAN, Janna muss über mobile Daten arbeiten.
Die etwa 1000 Notunterkünfte im Land, so gibt es der libanesische Staat bekannt, seien voll. Wohin die Menschen sollen, die immer noch auf und um den Platz der Märtyrer campieren, vermag er nicht zu sagen.
Einige Tage nach dem Gespräch mit Nasser sind die Geflüchteten aus dem kleinen Park verschwunden. Auch Nasser und seine Familie sind nicht mehr da. Stattdessen funkelt nun Nato-Draht, kreisförmig um den Park gewunden, in der libanesischen Sonne. Selbst die Eingänge zu der Grünfläche sind so versperrt. Nutzen kann ihn niemand mehr. Die Menschen, die hier ihr Lager aufschlugen, müssen weiterziehen. Wohin, wissen sie oft selbst nicht. (aargauerzeitung.ch)