Vor rund einem Monat sorgte Donald Trump für Chaos am G-7-Gipfel, nur, um danach den nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un als grossen Staatsmann zu loben. Im Vorfeld des NATO-Gipfels herrscht grosse Angst, dass dieser Horrorfilm eine Fortsetzung finden wird: In den kommenden Tagen wird sich der US-Präsident zuerst in Brüssel mit den Staatsoberhäuptern der NATO-Mitgliederländer treffen. Danach reist er zu einem Tête-à-tête mit Wladimir Putin in Helsinki weiter.
Die Befürchtungen sind keineswegs aus der Luft gegriffen. Trump hat die NATO mehrmals in Frage gestellt und die Partner rüde kritisiert. «Wir sind die Deppen, welche die Rechnungen begleichen», rief er letzte Woche an einer Veranstaltung in Montana vor seinen grölenden Fans aus. «Ich werde die NATO sehen und sagen: ‹Ihr müsst nun eure Rechnungen bezahlen.›»
Verunsichert sind die Alliierten auch über Gerüchte, wonach Trump seine Militärs angewiesen haben soll, Rückzugspläne für die US-Truppen aus Deutschland auszuarbeiten. Derzeit sind rund 35’000 amerikanische Soldaten zwischen Rhein und Elbe stationiert.
Mit Besorgnis wird auch zur Kenntnis genommen, dass im Westflügel des Weissen Hauses die Hardliner das Zepter übernommen haben. Die vernünftigen Generäle sind weitgehend entmachtet worden: Der gemässigte Sicherheitsberater H.R. McMaster wurde durch den kriegslüsternen John Bolton ersetzt. Stabschef John Kelly ist mehr oder weniger in der Versenkung verschwunden.
Selbst der Einfluss des Verteidigungsministers Jim Mattis scheint zu schwinden. Der erklärte NATO-Befürworter ist offenbar zunehmend isoliert. «Es ist keine Frage, dass er zu einem einsamen Kämpfer in der Regierung geworden ist», erklärt der frühere Verteidigungsminister Leon Panetta gegenüber der «Financial Times».
Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay, hat einst scherzhaft bemerkt, die Allianz sei gegründet worden, «um die Sowjetunion draussen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen am Boden zu halten». Diesen Zweck hat das Militärbündnis mehr als erfüllt. Weil der Artikel fünf des Vertrages alle Bündnispartner zur Beistandspflicht verbrummt, hat niemand je ernsthaft daran gedacht, einen NATO-Mitgliedstaat anzugreifen.
Die NATO ist zwar als Bollwerk gegen die Sowjetunion errichtet worden. Spätestens seit der Invasion in der Ostukraine und der Annexion der Krim soll sie auch die Machtgelüste Russlands in die Schranken weisen. Putin unternimmt daher alles, um die NATO wie die EU zu schwächen. Mit seinen Angriffen auf das Bündnis spielt Trump dem Kremlboss direkt in die Karten.
Die Krise der NATO ist jedoch auch hausgemacht. In Ungarn, Polen und der Türkei sind mittlerweile autoritäre Regimes am Ruder, die ebenfalls kritisch gegenüber der EU und der NATO sind. Kommt dazu, dass Trump in einem Punkt Recht hat: Viele Mitglieder haben ihre Verpflichtungen sträflich vernachlässigt.
2006 hatten die Mitglieder beschlossen, dass jedes Land zwei Prozent des Buttoinlandprodukts (BIP) für Militärausgaben aufwenden muss. Letztes Jahr haben Deutschland bloss 1,22 Prozent, Italien 1,13 Prozent und Spanien gar nur 0,92 Prozent für ihre Streitkräfte ausgegeben und damit dieses Ziel deutlich unterschritten.
Auch das nach wie vor hohe Handelsdefizit zwischen der Eurozone und den USA vergiftet die transatlantische Atmosphäre. Derzeit beträgt der Überschuss der Leistungsbilanz beinahe vier Prozent des BIPs, ein auf die Dauer unhaltbarer Zustand. Trump droht daher mit Strafzöllen auf Autos, und sollte er diese Drohung auch umsetzen, würde sich das eh schon miese Verhältnis zwischen Washington und Berlin noch weiter verschlechtern.
Trotzdem ist die NATO über alles gesehen eine Erfolgsgeschichte. Die hässlichen Töne im Vorfeld des Gipfels haben daher grosse Ängste ausgelöst. Mittlerweile wird nicht mehr ausgeschlossen, dass das Bündnis an den Streitereien zerbrechen könnte. Ein hoher NATO-Vertreter hat – verständlicherweise anonym – gegenüber der «New York Times» erklärt: «Die NATO kann vier Jahre Trump überstehen. Ich glaube aber nicht, dass sie acht Jahre überleben wird.»