Sie wiederholen sich: die Geschichten rund um sportliche Grossevents, bei denen Städte vor dem Anlass ihr Image aufpolieren wollen. Meistens sind die Opfer davon diejenigen Menschen, die schon zuvor nicht das Glück auf ihrer Seite hatten. Denn zu den Massnahmen gehört oft das «Beseitigen» aller unliebsamen, zumeist ärmeren, Einwohnerinnen und Einwohner.
So geschah es auch in der französischen Hauptstadt: Innerhalb des letzten Jahres wurden in Paris etwa 5000 Menschen vertrieben, wie die «New York Times» in einer Recherche berichtet. Die US-Zeitung stützt sich dabei auf die Angaben eines hohen Bundesbeamten in Paris. Die Stadtverwaltung ermutige die Menschen, in Busse zu steigen, die in andere Städte wie Lyon oder Marseille fahren.
Für ihre Recherche folgte die Zeitung den vertriebenen Menschen aus der Hauptstadt – «um zu sehen, wie das Programm funktioniert», so die NYT.
Zum Beispiel Mohamed Ibrahim. Der Mann aus dem Tschad sagt: «Wir wurden wegen der Olympischen Spiele vertrieben.» Ibrahim lebte zuvor in einer verlassenen Zementfabrik in der Nähe des Olympischen Dorfes. Gemeinsam mit anderen sei er von der Polizei im April aus dem Gebäude verwiesen worden. Ein Bus habe die Menschen weggebracht, ins zwei Stunden südwestlich gelegene Orléans.
«Sie geben dir ein zufälliges Ticket», wird ein anderer Mann aus der Zentralafrikanischen Republik zitiert, der in diesem Bus sass. «Wenn es ein Ticket nach Orléans ist, fährt man nach Orléans.»
Gemäss den französischen Behörden handelt es sich dabei um ein freiwilliges, staatlich gefördertes Programm. Dieses diene zur Relokalisierung von Menschen ohne Obdach. Innerhalb der vergangenen zwölf Monate wurden in ganz Frankreich dafür zehn neue, provisorische Unterkünfte gebaut. Die Menschen sollen dort temporär eine Bleibe erhalten, bevor sie – sofern sie für das Programm zulässig sind – eine permanente Unterkunft erhalten.
Innerhalb desselben Zeitraums hat die Polizei gemäss NYT verstärkt Razzien in Obdachlosenlagern und verlassenen Gebäuden durchgeführt. In Zusammenarbeit mit den städtischen Behörden wurden die Menschen von ihren Aufenthaltsorten vertrieben – ihnen wurde allerdings Hilfe bei der Umsiedlung versprochen.
Zwar gibt es das Programm schon seit Jahren, aber durch die Zunahme an Zwangsräumungen sind gemäss Recherche Tausende von neuen Menschen hinzugekommen.
Was viele dabei nicht wissen: Für das Programm zulässig sind nur Menschen, die auch asylberechtigt sind.
Nach ihrer Ankunft in der neuen Stadt leben die Obdachlosen bis zu drei Wochen lang in temporären Unterkünften und werden daraufhin überprüft, ob sie asylberechtigt sind. Diejenigen, die dafür infrage kommen, können eine langfristige Unterkunft erhalten, während sie einen Asylantrag stellen.
Allerdings: Etwa 60 Prozent der Menschen in den Notunterkünften erhalten keine langfristige Unterkunft.
«Sie haben uns Wohnraum und soziale Hilfe versprochen», sagte Yussuf Ahmed aus dem Sudan, der am Flughafen Charles de Gaulle Flugzeuge reinigt. Da er aber den Flüchtlingsstatus hat, konnte Ahmed nicht vom Programm profitieren. Viele der Befragten sagten aber, sie hätten keine andere Wahl gehabt, als in die Busse zu steigen: Polizeibeamte kamen, sagte zum Beispiel ein weiterer Mann. «Sie umzingelten uns.»
Die Regierung bestreitet, dass diese Busfahrten im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen stehen. Mittlerweile gibt es aber Belege in Form von E-Mails, wonach ein Beamter der Wohnungsbaubehörde erklärt, dass es das Ziel sei, «Menschen auf der Strasse in der Nähe der olympischen Austragungsorte zu identifizieren» und sie vor den Spielen umzusiedeln.
Einige hätten bereits Abschiebebescheide erhalten, berichtet die «New York Times». Deshalb würden einige Anwälte den Menschen dringend raten, nicht in die Busse zu steigen und «ihr Glück auf der Strasse zu suchen». Ein in Paris tätiger Anwalt formuliert es sogar so:
Doch was passiert mit denjenigen – meist junge Männer –, die nicht für das Programm infrage kommen, die aber auch (noch) keinen Abschiebebescheid gekriegt haben? Die verbleibenden Einwanderer werden in der Regel erneut vertrieben. Notunterkünfte sind Mangelware, sodass die meisten Menschen in einer neuen Stadt bald wieder obdachlos werden.
Das zeigt das Beispiel der drei interviewten Männer aus dem Tschad und aus der Zentralafrikanischen Republik. Die drei kriegten als temporäre Unterkunft winzige Zimmer in einem Motel ausserhalb der Stadt Orléans. Die Anlage hatte keine Mitarbeitenden oder Sozialarbeiter. «Wir kamen an und es war nichts da», sagte einer der Männer. «Sie haben gelogen, um uns in den Bus zu bekommen.»
Nach ein paar Wochen wurden die Männer aufgefordert, zu gehen: Kein örtliches Heim konnte sie aufnehmen. Um seinen Job als Reinigungskraft am Flughafen zu behalten, kehrte Ahmed nach Paris zurück. Das Gebäude, in dem er einst gelebt hatte, war nicht mehr zugänglich und wurde von Sicherheitskräften bewacht. Er hat – vorerst – ein anderes verlassenes Gebäude gefunden.
Die zwei anderen Männer entschieden sich, in Orléans zu bleiben, wo sie während der meisten Tage eine Stunde zu Fuss in die Innenstadt gehen, um Arbeit zu finden. Von ihren ursprünglichen, temporären Wohnungen wurden sie vertrieben, dennoch kehrten sie dorthin zurück. Die Schlüssel zu ihrem Zimmer in der Unterkunft funktionieren nicht mehr, weshalb die beiden Männer durch die Fenster eingebrochen sind – und damit erneut zu Hausbesetzern wurden.
Dabei will Präsident Emmanuel Macron eigentlich alles richtig machen, sozialer und nachhaltiger sein als bisherige Austragungsorte der Olympischen Spiele. Ein Beispiel dafür ist das Olympische Dorf, das die Athletinnen und Athleten beherbergen wird. Es wurde – genauso wie mehrere neue Sportanlagen, in denen an den Olympischen Spielen Wettbewerbe ausgetragen werden – in Saint-Denis aufgestellt, einem berüchtigten Vorort nordöstlich von Paris.
Das Olympische Dorf wurde damit in einem der ärmsten Vororte von Paris errichtet, wo Tausende von Menschen in Strassenlagern, Notunterkünften oder verlassenen Gebäuden leben. Das Departement Seine-Saint-Denis hat die höchste Kriminalitäts- und Drogenrate des Landes. Gleichzeitig ist es aber auch der Ort, an dem sich immer mehr Weltkonzerne ansiedeln, wo Kylian Mbappé herkommt und wo das urbane Leben nur so pulsiert.
Das Olympische Dorf im Pariser Vorort soll dabei zum Vorzeigeprojekt werden: Das neue Aquatikzentrum kann seine Energie mithilfe von Sonnenkollektoren weitgehend selber produzieren, neue Metrolinien werden Saint-Denis noch besser mit der Innenstadt vernetzen, und nach den Spielen soll aus dem Olympischen Dorf ein neues Quartier mit Wohnungen für etwa 6000 Menschen und gleich vielen Arbeitsplätzen entstehen.
Dass aber viele Menschen auch aus der Umgebung Saint-Denis weggebracht wurden, wurde von den Behörden bislang verschwiegen. Auch zu der «New York Times»-Recherche wollten sie sich nicht äussern.
Zudem werden die gutgemeinten Pläne nach den Olympischen Spielen in Saint-Denis durchaus auch kritisch gesehen: Es ist die Angst, dass nicht nur Migranten ohne Obdach, sondern auch Menschen mit wenig Einkommen ihre Bleibe verlassen müssen. Dann nämlich, wenn die geplanten Veränderungen ihre Wohnung verteuern würden. Und wenn sie durch Mittelständler, die vor den hohen Mieten in der Innenstadt flüchten, aus Saint-Denis verdrängt werden.
Das sind oft psychisch Kranke Menschen mit schweren Vergangenheiten. Denen müssen wir helfen, aber das muss sicher nicht an solchen Orten passieren.