Frau Zarytska, Sie leben in Solomianskyi, einem Distrikt in Kiew, der zurzeit besonders häufig angegriffen wird, meist in der Nacht. Was machen Sie, wenn Russland angreift?
Natalia Zarytska: Wenn es einen Luftalarm gibt, wecke ich meinen Sohn und wir rennen in den Unterschlupf, den wir uns mit zwei weiteren Nachbarsfamilien teilen. Er ist etwa zwei Quadratmeter gross, Platz zum Schlafen hat es dort nicht. Wir sitzen dort und ich halte meinen Sohn in den Armen. Dann warten wir. Manchmal unterhalten wir uns, manchmal beten wir. Und wir beobachten die Lage über unsere Mobiltelefone. Sobald die Entwarnung kommt, gehen wir zurück ins Bett. Manchmal gibt es auch zwei Alarme pro Nacht, dann fängt alles wieder von vorn an. Und am nächsten Morgen stehen wir wieder auf und gehen zur Arbeit.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nun bereits über drei Jahre. Was hat sich verändert?
Seit Anfang dieses Sommers sind die Angriffe häufiger geworden. Wir müssen jetzt etwa jede fünfte Nacht Schutz suchen. Und auch die Intensität der Angriffe hat zugenommen. Bei früheren Drohnenangriffen hörte ich jeweils eine Drohne aufs Mal, jetzt sind es zum Teil vier oder fünf. Kürzlich habe ich 78 Explosionen in einer Nacht mitgezählt. Das hinterlässt Spuren: Letzte Nacht hörte ich das Geräusch einer Mücke und dachte sofort, es handelte sich um einen Drohnenangriff. Ich sah auf meinem Mobiltelefon nach, ob es einen Alarm gegeben hatte.
Welche Sicherheitsmassnahmen ergreifen Sie sonst noch, um sich zu schützen?
Ich bin in vielen Telegram-Chats. Dort schreiben die Menschen rein, wo es gerade zu Angriffen kommt. Und wir haben Feuerlöscher in der Wohnung und lagern genügend Wasser auf unserem Balkon. Ich habe immer eine Tasche mit Dokumenten, meiner Kreditkarte und Bargeld bei mir. Und ich bereite mich vor, wenn ich aus dem Haus gehe.
Wie genau?
Ich ziehe Turnschuhe statt eleganter Schuhe an und trage eine Hose statt eines Rockes, damit ich besser rennen kann. Eine spezielle Brille schützt mich vor Splittern bei Angriffen. Und ich habe immer ein Messer bei mir, aus Selbstschutz. Diese Ausrüstung ist mit dem Krieg normal geworden.
Ihr Sohn ist elf Jahre alt. Geht er weiterhin zur Schule?
Nach besonders starken Angriffen in der Nacht stellt die Schule auf Online-Unterricht um. Grundsätzlich läuft die Schule aber normal weiter. Mein Sohn trägt keine Schuluniform mehr, sondern eine Sporthose und Turnschuhe, um agiler zu sein. Sobald es einen Luftalarm gibt, geht die Lehrerin mit den Kindern in den Schutzraum. Mein Sohn weiss mittlerweile genau, wie er sich bei einem Angriff verhalten muss. Ich lebe aber mit dem Wissen darum, dass auch der Schutzraum einem direkten Raketenangriff wohl nicht standhalten würde. In diesem Gebiet hier bist du nirgendwo mehr sicher. Uns bleibt also nur, zu beten.
Wie sieht das öffentliche Leben in Kiew momentan aus?
Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule. Sobald der Alarm losgeht, rennen alle in die U-Bahn-Stationen oder in Schutzräume. Wenn du das Geräusch einer Drohne hörst, weisst du, dass du zweieinhalb Sekunden Zeit hast, um dich in Sicherheit zu bringen. Es gibt auch Leute, die führen ihr Leben weiter wie zuvor. Sie versuchen, die Gefahr zu verdrängen. Aber der russische Aggressor ist real. Und je früher man begreift, dass man sich in einem echten Krieg befindet, desto mehr Zeit bleibt einem, sich vorzubereiten. Wenn wir nicht zusammenhalten, verschwinden wir.
Wie gehen Sie mit dieser ständigen Belastung um?
Ich sage mir: «Natalia, Russland will, dass du dir Sorgen machst, sei stark.» Aber wenn du hier ein Kind, Verwandte und Freunde hast, ist es schwer, daran zu glauben. Viele Menschen hier tun so, als wären sie in Ordnung. Wir machen uns aber wohl alle grosse Sorgen. Wir stehen dauernd unter Stress.
US-Präsident Donald Trump will Nato-Staaten Abwehrraketen verkaufen, damit diese ihre Abwehrsysteme an die Ukraine liefern können. Eine Kehrtwende in Trumps Ukraine-Politik zeichnet sich ab. Stimmen Sie diese Entwicklungen zuversichtlich?
Jede Unterstützung ist überlebenswichtig. Ich verstehe, dass sich der Krieg für Menschen in den USA oder auch in Europa sehr weit weg anfühlt. Aber das ist nicht nur ein territorialer Krieg, hier geht es auch um demokratische Werte. Manchmal erinnert mich unsere Situation an den Film «Don’t Look Up», wo sich die Menschen bis zum Schluss der Realität verweigern. Aber ich bin mir sicher: Russland wird auch vor anderen Ländern nicht Halt machen.
Haben Sie persönlich noch Hoffnung, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt?
Es sieht nicht gut aus für uns. Wir haben nicht genügend Waffen. Viele, die uns verteidigten, wurden getötet. Wunder können immer geschehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, hier zu warten, bis eine Drohne mein Kind, meine Verwandten oder mich selbst tötet. Um ehrlich zu sein, sehe ich für meine Familie hier keine Perspektive mehr.
Werden Sie dennoch in Kiew bleiben?
Seit Kurzem denke ich darüber nach, Kiew zu verlassen und weiter in den Westen des Landes oder sogar ins Ausland zu gehen. Aber woher weiss ich, dass wir dort sicher sind? Auch Polen hat eine Grenze zu Russland.
1. aus ethischen Gründen
2. aus Eigennutz,weil wenn nach der UA dann NATO Staaten angegriffen werden sollten,das massive Auswirkungen (ökonomische,politische+reale (auch die CH ist angreifbar))haben wird.Wir exportieren massiv in die EU.Glaubt irgendjemand,das hat keine Auswirkungen,falls RUS die NATO angreift?? Erinnern wir uns an WKII
3. Wir müssen verstehen lernen,dass das ein Krieg der Systeme ist.Demokratie(Freiheit) vs Diktatur
Generationen Russischer Staatsbürger werden für den Irrsinn Putins bezahlen - auch wenn er schon längst im Mausoleum liegt.
Über jeden ermordeten Ukrainer wird Buch geführt.
Die terrorisische Aktivität Russlands ist tagtäglich bestens dokumentiert - es wird nichts abzustreiten geben.