Die Fotografin Maria Mykhailenko (28) ist in Kiew aufgewachsen und wohnt derzeit zusammen mit ihrer Schwester, deren Mann und Kind sowie einer Freundin in Rupperswil AG. Sie flüchtete nach Kriegsbeginn zuerst ins Landhaus ihrer Eltern nahe Butscha, danach weiter in die Schweiz, wo ihr Ex-Mann lebt. Sie wirkt lebensfroh – trotz aller Schwierigkeiten. Sie erzählt:
«Ich habe schon einmal fast drei Jahre in der Schweiz gelebt, die letzten Jahre aber wieder in Kiew. Dann kam der Krieg und wir mussten weg. Als wir die ukrainische Grenze überquerten, war ich tieftraurig. Ich wollte mein Land nicht verlassen! Gleichzeitig habe ich mich gefreut, Freunde in der Schweiz wiederzusehen. Ein Gefühls-Chaos.
Weil ich Deutsch kann, konnte ich bald als Übersetzerin helfen. Ich habe auch einige Aufträge als Fotografin erhalten. Trotzdem ist es schwierig. In Kiew hatte ich ein tolles Leben, eine schöne Wohnung, eine Karriere. Hier muss ich bei null anfangen – ohne zu wissen, wie lang ich hier sein werde. Ich hatte auch ein paar Mal Pech, auch mit den Behörden. Aber ich habe mich entschieden, nach vorne zu schauen und nicht zurück. Ich nutze jede Chance, jeden Tag.
Die Schweiz ist wunderschön, viele sind hilfsbereit. Ich liebe die Berge, gehe gerne wandern. Die Ukraine mit den Schweizer Bergen: Das wäre perfekt! Ich würde gern zurück nach Kiew, das ist meine Heimat. Doch momentan ist es zu unsicher. Ich habe Angst, getötet zu werden. Und es gibt dort wenig Arbeit. Wie es weitergeht, weiss ich nicht.
Zwischen der Schweiz und der Ukraine gibt es viele Unterschiede. Die Mentalität ist anders. Die Menschen hier sind sehr höflich, wir sind direkter. In der Schweiz ist man sehr pünktlich, auch ist alles genau geregelt. In der Ukraine machen sich viele beruflich selbstständig – man versucht es einfach mal. In der Schweiz heisst es: ‹Was, du machst dich selbstständig? Hast du denn ein zweites Standbein?› Ich glaube, man hat in der Schweiz manchmal Angst, Sachen auszuprobieren. In der Ukraine ist man sich gewohnt, dass das Leben instabil ist, dass man nicht weiss, was morgen ist.
Überrascht hat mich, wie viele Briefe man hier per Post bekommt. In der Ukraine ist vieles digital. Wir haben zum Beispiel unsere ID und Pass auf dem Handy, alle Formulare sind online.
Was ich vermisse? Die Atmosphäre in Kiew: Das Leben in den Strassen, die Hektik der Vier-Millionen-Stadt. Ich hoffe, wenn das Ganze vorbei ist, kommen alle und sehen, wie toll Kiew ist! Ich war schon immer stolz auf die Ukraine, aber jetzt bin ich es noch mehr. Schon die Orange Revolution und die Maidan-Proteste haben gezeigt, wie wir für die Freiheit einstehen. Das hat uns stolz gemacht. Jetzt zeigen wir allen, was für eine tolle Nation wir sind.»
Sofiia Pylat (25) arbeitete als Ärztin in Odessa, als der Krieg ausbrach. Zunächst flüchtete sie in den Westen zu ihren Eltern, später reiste sie allein weiter in die Schweiz. Sie lebt in Luzern bei einer Gastfamilie. Sie spricht fliessend Deutsch, interessiert sich für Geschichte – und kennt inzwischen auch den Rütlischwur und Wilhelm Tell.
«Ich habe bemerkt, dass Patriotismus und Nationalismus in der Schweiz einen negativen Beigeschmack haben. Das hat vermutlich damit zu tun, dass sie schon lange keinen Krieg mehr erlebt hat. In der Ukraine ist das anders, es gab in unserer langen Geschichte viele Kriege. Russland hat nicht zum ersten Mal im Sinn, die Ukraine zu vernichten. Manche erzählen, die beiden Länder seien Brüder, doch das stimmt nicht. Meine Urgrossmutter hat erlebt, wie die Bolschewisten die Ukraine überfielen. Sie sagte immer, es gebe keine schlimmeren Soldaten als die russischen.
Ich bin in einem kleinen Ort, rund 100 Kilometer von Lwiw entfernt, aufgewachsen. Zu Hause haben wir Ukrainisch gesprochen, aber als ich in Odessa arbeitete, redete ich fast immer Russisch. Ich habe hin- und hergewechselt wie Schweizer zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch.
Auch im Osten wird jetzt mehr Ukrainisch gesprochen. Der Krieg hat uns zusammengeschweisst. Wir fühlen, was Heimat und Freiheit bedeuten. Eine Freundin von mir hat während der russischen Okkupation in Cherson für die Freiheit protestiert. Ich habe keine Worte dafür.
Der ukrainische Nationalfeiertag am 24. August hat für mich jetzt eine noch grössere Bedeutung. In unserer Hymne – sie stammt aus dem Jahr 1862 – heisst es: «Seele und Körper werden wir für unsere Freiheit opfern.» Das ist gerade so aktuell. Ich kann derzeit gar keine ukrainischen Lieder hören, sonst weine ich sofort.
Meine Zukunft ist momentan unsicher. Als der Krieg ausbrach, konnten nicht mehr alle Löhne im Spital bezahlt werden. Weil ich Deutsch gelernt habe, kam ich in die Schweiz. Ich wusste gar nicht, dass man hier Schweizerdeutsch spricht! Das war eine grosse Überraschung für mich. Sonst ist vieles ähnlich. Die Pflanzen sind gleich, wir essen auch Brot und Butter und Schinken, auch so etwas wie Rösti haben wir. Die Natur hier ist superschön. Aber Heimat ist Heimat. Meine Heimat ist die Ukraine. Wenn der Krieg morgen vorbei wäre, würde ich zurückgehen. Deshalb weiss ich noch nicht, ob ich versuchen soll, mein Ärzte-Diplom anerkennen zu lassen. Momentan probiere ich, als Dolmetscherin zu arbeiten.
Ich habe einen Satz gesehen, den Peter von Matt 2009 in seiner 1.-August-Rede auf dem Rütli sagte: ‹Die Schweiz ist unsere Heimat, aber die Heimat der Schweiz ist Europa.› Das Gleiche gilt für die Ukraine. Ich glaube, das Ziel der Schweiz und der Ukraine ist das gleiche: Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden.»
Adelina Sys (24) kommt ursprünglich aus der Region Donezk. Die Yogalehrerin flüchtete zusammen mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder in die Schweiz. Vor wenigen Tagen ist sie nach Kiew zurückgekehrt – alleine.
«Es ist schön und schwierig zugleich, zurück in der Ukraine zu sein. Es tut gut, zu Hause zu sein, bei meinem Freund, meinen Freunden. Aber ich habe auch Angst. Es gibt zwar keine russischen Soldaten mehr in Kiew, aber es ist nicht zu 100 Prozent sicher. Heute Morgen hatten wir um 5 Uhr Luftalarm.
Ich bin vor allem wegen meines Freundes zurück in die Ukraine gegangen. Er darf nicht ausreisen. Wie es weitergeht, weiss ich nicht – auch nicht, ob ich hierbleibe oder in die Schweiz zurückkehre. Ich habe hier in Kiew ein Yoga-Studio. Das habe ich mir selbst aufgebaut. Aber jetzt ist es geschlossen.
Viele meiner Kunden und Kundinnen sind in anderen Ländern, und jene, die hier sind, haben andere Sorgen. Sie brauchen das Geld für Essen und Kleider, Yoga hat keine Priorität. Mein Freund hat hier einen Job, aber ich weiss nicht, wie lange noch. In der Schweiz kann ich einige Yogastunden geben. Aber es ist nicht genug, um ohne Geld vom Staat zu leben und ein Zimmer zu mieten. Ein Problem ist auch, dass ich noch nicht gut Deutsch kann. Ich bin es am Lernen, aber es ist schwierig.
Ich komme ursprünglich aus der Region Donezk. 2014 mussten wir schon einmal fliehen. Danach lebte ich in Kiew. In der Ukraine fühle ich mich zu Hause, weil ich weiss, wie alles funktioniert.
Dass ich in die Schweiz kam, war Zufall. Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten, als der Krieg begann. Wir flohen zuerst nach Polen. Dort hat uns ein Mann, ein Meditationslehrer, gesagt, er könne uns helfen und in die Schweiz bringen. Man muss bei solchen Angeboten ja vorsichtig sein, weil nicht alle Menschen gut sind. Deshalb haben wir uns informiert, bevor wir mitgegangen sind. So kam ich in die Schweiz. Ich wusste nicht einmal, dass man hier Deutsch redet.
Ich versuche immer, das Gute in der Situation zu sehen: Die neuen Freunde, dass ich die Schweiz kennen lernen durfte, die Hilfsbereitschaft. So viele Menschen haben uns geholfen, auf der Flucht und in der Schweiz. Auch in der Ukraine versuchen alle einander zu helfen. Ich bin sehr stolz auf mein Land, auf all jene, die es verteidigen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, sich freiwillig als Soldat zu melden, zu wissen, dass man jeden Moment getötet werden kann. Den Nationalfeiertag am 24. August finde ich hingegen nicht so wichtig. Ich finde, man sollte immer Ukrainerin sein, nicht nur an einem Tag.
Mein grösster Wunsch ist, dass wir diesen Krieg gewinnen. Nicht nur für die Ukraine, sondern damit alle verstehen, dass wir alle die Welt zum Besseren verändern können. Jeder kleine Schritt und jede Person ist sehr wichtig auf diesem Weg.»
Victoria Hnatenko (34) ist mit ihrer Mutter und einer Freundin aus Kiew in die Schweiz geflohen. Die Dolmetscherin fand hier rasch einen Job.
«Einige Tage vor dem Krieg habe ich einer Freundin gesagt, sie solle das Auto volltanken. Ich wollte vorbereitet sein, auch wenn ich nicht wirklich glaubte, dass es Krieg geben würde. Meine Freunde sagten, ich sei verrückt. Als am 24. Februar Kiew bombardiert wurde, dachte ich im ersten Moment, es sei Feuerwerk. Schnell wurde mir klar: Wir müssen weg. Ich habe Freunde und Verwandte angerufen, ihnen gesagt, sie sollen das Nötigste packen und fliehen. Ich kann in solchen Situationen die Emotionen wegschieben, alles organisieren.
Es war schwierig, aus Kiew wegzukommen. Züge und Busse fuhren nicht. Wir mussten stundenlang Benzin suchen. An der Grenze habe ich viele Männer gesehen, die sich von ihren Frauen und Kindern verabschiedet haben. Vielleicht haben sie sich das letzte Mal gesehen.
Wir schafften es bis nach Polen, von dort brachten uns Freiwillige in die Schweiz. Meine Mutter hat hier Freunde. Meine Schwester und mein Vater wollten das Land zuerst nicht verlassen. Etwa einen Monat später mussten wir Freiwillige organisieren, die sie herausholen konnten.
Ich habe in der Schweiz schon nach einer Woche einen Job gefunden, bin nicht auf Geld vom Staat angewiesen. Ich lebe momentan in Elsau ZH, neben den Kühen, wie meine Arbeitskollegen scherzen. Wenn ich am Morgen zur Arbeit gehe, sehe ich die Berge, das ist wunderschön.
Ich fühle mich hier wie im Kindergarten, ganz alltägliche Dinge weiss ich nicht. Ich musste zum Beispiel lernen, wie das mit den Abfallsäcken funktioniert. Oder dass es A-Post gibt und wie das mit der Krankenversicherung geregelt ist. Ich habe auch gemerkt, dass es kulturelle Unterschiede gibt. In der Ukraine sind wir patriarchalischer: Bei einem Date ist klar, dass der Mann zahlt. In der Schweiz ist es okay, 50:50 zu machen. Ich war auch überrascht, dass man Teilzeit arbeiten kann. Das gibt es in der Ukraine nicht.
Ich bin nun am Deutschlernen. Meine Muttersprache ist Russisch. Momentan gibt es bei uns eine starke nationalistische Bewegung, der Druck ist hoch, Ukrainisch zu sprechen. Ich spreche aber nach wie vor Russisch. Die russische Sprache ist keine Bedrohung, Russland ist die Bedrohung. Das ist ein Unterschied, den nicht alle machen.
Wie meine Zukunft aussieht? In der Schweiz wird man immer gefragt, was man für Pläne hat. In der Ukraine ist man spontaner, man weiss, wie unberechenbar das Leben ist. Momentan hoffe ich, dass ich hierbleiben kann. Wenn ich zurückmuss, müsste ich nochmals von null anfangen.
Was ich noch sagen will, auch im Namen meiner Freunde: Wir sind sehr dankbar für all die Hilfe, die wir bekommen haben. So viele haben uns geholfen, Private, Behörden. Die Gastfamilien haben buchstäblich ihre Tür geöffnet für uns. Dafür sind wir sehr dankbar.»
Da könnte sich unser schönes, reiches Land echt eine dicke Scheibe davon abschneiden, denn offenbar sind wir, was die Digitalisierung angeht, noch ein echtes Entwicklungsland. So gesehen wäre statt eidgenössischer Überheblichkeit gegen Fremde, manchmal vielleicht etwas mehr Demut angesagt? Offenbar können einige einiges besser als wir; beim Digitalen kein Wunder!
"Im Krieg kommt das Beste und das Schlechteste im Menschen zum Vorschein"
Ich sehe dies wie Arthur Schopenhauer:
«Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt.[...] Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein.»